Tania del Rio / Will Staehle: Warren der 13. und das Magische Auge


Dürfen wir vorstellen? Warren der Dreizehnte: Er ist Page, Handwerker, Kammerjäger, Schornsteinfeger und Laufbursche zugleich. Und das in einem alten Familienhotel mit vielen dunklen Ecken, verwinkelten Korridoren und ungelüfteten Geheimnissen. Vielleicht ist es sogar der Ort, an dem das sagenumwobene Magische Auge versteckt ist? Auf diesen Schatz hat es nicht nur Warrens fiese Tante Annaconda abgesehen, sondern bald auch das ganze Nachbardorf.

Warren setzt alles daran, das Auge als Erster zu finden, doch vorher muss er einige wichtige Dinge klären: Welches seltsame Wesen lauert im Heizungskeller? Wer ist dieses geisterhafte Mädchen, das im Irrgarten herumschleicht? Und warum ist der einzige Hotelgast wie eine Mumie in Bandagen gewickelt?

Jugendbuch

Boje (2016)

Originaltitel: Warren the 13th & the All-Seeing Eye

ISBN 978-3-414-82456-1

EUR 13,13




Leseprobe

Warren der Dreizehnte balancierte vorsichtig über das Dach des Hotel Warren, und die alten Schindeln klapperten wie die Knochen eines Skeletts. Ein kühler Herbstwind schubste ihn in den Rücken, aber er ließ sich davon nicht beirren. Ein Sturz vom Dach des achtstöckigen Gebäudes war seine geringste Sorge. Er musste sich um den Schornstein kümmern.

Die Raben krächzten warnend aus dem Innern des Rauchabzugs, aber Warren schaute trotzdem hinein. Wie üblich war der Schornstein mit Zeitungspapier, Stofffetzen, Zweigen, Aststücken und anderem Zeug verstopft. Drei schwarze Vögel starrten zu ihm hinauf, dicht nebeneinander in das improvisierte Nest geschmiegt.

„Los, verschwindet!“, rief Warren.

Die Raben rührten sich nicht von der Stelle.

„Hier sind genug schöne Bäume drumherum. Husch, husch!“

Doch die Raben husch-huschten nicht. Sie taten so, als wäre Warren unsichtbar.

„Tja, dann geht es wohl nur auf die harte Tour“, sagte er seufzend.

Warren hatte diese Aufgabe schon Dutzende von Malen erledigt. Mindestens ein- oder zweimal im Monat kletterte er aufs Dach und räumte das Nest aus dem Schornstein, denn sonst füllte sich das ganze Hotel mit Rauch. Aber an diesem Morgen schienen die Raben besonders stur zu sein. Der Winter nahte, und sie brauchten ein gemütliches Plätzchen, wo sie vor der Kälte geschützt waren.

„Was ist, wenn ich Wasser auf euch kippe?“, fragte Warren. „Wie würde euch das gefallen?“

Doch die Vögel wussten, dass er bluffte. Einer schnappte mit dem Schnabel nach ihm, aber die anderen dösten einfach weiter.

Also kroch Warren zum Rand des Daches, auf dem eine verbogene Wetterfahne stand. Er schraubte den spitzen Metallstab ab und hielt ihn in den Schornstein. „Wenn es sein muss, setze ich Gewalt ein“, sagte er entschlossen. „Raus mit euch, sonst setzt es was!“

Die Raben raschelten nicht einmal mit dem Gefieder. Sie wussten, dass Warren zu nett war, um einen Vogel mit einer Wetterfahne zu pieksen.

Es war klar, dass ihm nur noch eines blieb. „Wenn ihr nicht sofort verschwindet“, sagte er so drohend wie möglich, „hole ich Tante Annaconda, und dann werdet ihr schon sehen, was euch blüht.“

Da stoben die Raben krächzend aus dem Schornstein, dass die Federn nur so flogen, und flatterten gen Himmel. Sie kannten Annaconda zur Genüge, schließlich lebten sie schon eine ganze Weile im Umkreis des Hotels, und niemand – nicht einmal ein Rabe – wagte es, ihre Geduld auf die Probe zu stellen.

Warren sah ihnen nach, bis sie nur noch schwarze Punkte vor dem bleichen Morgenhimmel waren. Er hasste es, sie zu erschrecken, aber sie ließen ihm keine andere Wahl. Dann senkte er den Blick und betrachtete von seinem Aussichtspunkt die Umgebung. Viel war dort allerdings nicht zu sehen.

Das Hotel Warren war meilenweit das einzige Gebäude. Es hockte trübselig auf einem Hügel in einer trostlosen grauen Landschaft und war umgeben von einem Wald aus ebenso trostlosen kümmerlichen Bäumen. Man konnte stundenlang in jede beliebige Richtung gehen, ohne irgendetwas Interessantes zu erblicken.

Doch Warren interessierte sich nicht für den deprimierenden Ausblick. Er schaute in die Ferne, jenseits des Horizonts, wo sich der Rest der Welt befand. Er stellte sich Städte und Urwälder vor, Häfen und Wüsten – Landschaften, die er nur aus Büchern kannte. Lauter Orte, die er gerne einmal sehen würde ... aber er war erst zwölf Jahre alt und der Erbe des Familienhotels, in dem er als einziger Page, Handwerker, Kammerjäger, Zimmerservice-Diener und Junge für alles arbeitete. Warren der Dreizehnte hatte sein ganzes Leben in dem Hotel verbracht, genau wie sein Vater und die elf anderen Warren vor ihm.

Seufzend wandte er sich wieder der unschönen Aufgabe zu, den Schornstein zu säubern. Bald waren seine Hände schwarz von Ruß. Er zerrte etliche Zweige und Aststücke heraus und auch ein paar seltsame, unerwartete Objekte: die Spitzenhaube einer Dame, eine rostige Nagelfeile, eine Kuchenform und sogar einen Beutel mit Murmeln, der ihm gehörte.

Während Warren noch überlegte, wie die Raben es wohl geschafft hatten, den Murmelbeutel aus der Schreibtischschublade in seinem Zimmer zu stibitzen, vernahm er plötzlich ein dumpfes Grollen.

Er spähte in den morgendlichen Nebel. Zu seiner Überraschung sah er, dass sich im Wald etwas bewegte. Halb verdeckt durch das dürre Astgewirr glitt ein großer dunkler Schatten zwischen den Bäumen hindurch.

Im Wald, der sich um das Hotel erstreckte, gab es eine Menge Bären und Wildschweine, aber dieser Schatten war größer als alle Tiere. Er gab wieder ein Grollen von sich, und Warrens Herz machte einen Satz. Das war kein Lebewesen.

Es war ein Automobil!

Er hatte kein Automobil mehr gesehen, seit der letzte Gast das Hotel Warren verlassen und geschworen hatte, nie wieder hierher zu kommen. Fünf lange Jahre waren vergangen, ohne einen einzigen Gast. Warrens Augen weiteten sich, als der Wagen den Hügel hinauffuhr. Endlich kam jemand, um bei ihnen zu wohnen!

Das Automobil rollte durch das einst prächtige Eisentor und hielt vor dem Eingang des Hotels. Und genau in dem Moment erinnerte sich Warren daran, dass es seine Aufgabe war, Neuankömmlinge zu begrüßen und sich um ihr Gepäck zu kümmern.

Er zuckte zusammen, als die Sprechanlage krächzend und knisternd zum Leben erwachte und die panische Stimme von Onkel Rupert durch den Schornstein heraufklang:

„WAAAAARREEN!“

Er musste sofort in die Lobby! Warren überlegte kurz, ob er den Schornstein als Abkürzung nehmen sollte, aber acht Stockwerke waren ein langer Weg. Stattdessen lief er zum Rand des Daches, hielt sich mit einer Hand an der Regenrinne fest und schwang sich durch das Fenster in sein Zimmer. Als er mit einem Plumps dort landete, verteilte sich Ruß überall auf dem Bett und dem Schreibtisch in seiner kleinen Kammer.

Früher hatte Warren in einem der geräumigen Zimmer im ersten Stock des Hotels gewohnt, doch Tante Annaconda schätzte es nicht, Kinder um sich zu haben, und hatte ihn in den Dachboden verbannt, acht Etagen von der Lobby entfernt, wo Warren den größten Teil seiner Arbeit verrichtete.

Er riss die Luke auf, die in den Boden seiner Kammer eingelassen war, kletterte die Holzleiter hinunter und sprang in den Flur des siebten Stocks. Während er hastig zur Treppe lief, schwirrten ihm lauter Fragen durch den Kopf. Wer war dieser geheimnisvolle Gast? Und warum war er in sein Hotel gekommen?