Patry Francis: Die Schatten von Race Point


Hallie Costa wächst in einer Umgebung voller Geborgenheit auf: Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein mit ihrem geliebten Vater Nick in einer Kleinstadt am äußersten Zipfel von Cape Cod, wo der Arzt dank seiner guten Ratschläge bekannt ist wie ein bunter Hund. Als die portugiesische Fischercommunity schwer erschüttert wird durch den Mord an der Mutter von Gus Silva, nimmt Hallie sich ihres Mitschülers an. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Neil Gallagher bilden sie bald ein unzertrennliches Trio. Aus Gus’ und Hallies Freundschaft wird Liebe – bis ein Zwischenfall am Strand von Race Point das Paar auseinandertreibt und Gus eine folgenreiche Entscheidung trifft: Er tritt dem Priesterseminar bei. Jahre später ist er ein geschätzter Seelsorger. Doch dann taucht eine mysteriöse Frau auf, die die Nähe zu dem jungen Priester sucht, und plötzlich setzt ein weiterer Mordfall Gus’ gesamte Existenz aufs Spiel. Kann Hallie ihrem früheren Freund noch einmal helfen, bevor es zu spät ist?

Roman

Mare (2015)

Originaltitel: The Orphans of Race Point

ISBN 978-3-86648-226-5

EUR 20,00




Leseprobe

Es war Ende Oktober, die erste kalte Nacht des Jahres, als die neunjährige Hallie Costa dem tanzenden Lichtschein ihrer Taschenlampe die Dachtreppe hinauf folgte, unwiderstehlich angezogen von dem schwarzen Himmel, dem brackigen Geruch des Windes, der in Böen von der Bucht herüberwehte, und der Gesellschaft des Möwerichs, der neben dem Schornstein schlief. Sie erkannte ihn an dem leicht krummen Flügel und an seinem taumelnden Flug – laut der Diagnose ihres Vaters die Folge einer alten Verletzung. Asa Quebrada nannte er ihn. Gebrochener Flügel.

Hallie war schon öfter auf dem Dach gewesen, aber etwas war anders in dieser Nacht. Sie würde nie herausfinden, ob sie von der plötzlichen Kälte aufgewacht war oder von einem Geräusch, das sich so verstohlen wie das Mondlicht in ihr Zimmer geschlichen hatte. Hat da jemand gesungen? Als sie die Augen öffnete und sich im Bett aufsetzte, war alles still. Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, wie die alten Leute weinten, wenn beim alljährlichen portugiesischen Fest Fado gespielt wurde. Saudade, wie ihre Großtante Del es nannte: Heimweh-Musik. Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es dabei um mehr als nur einen Ort ging. Es war eine tiefe Sehnsucht nach allem, was verloren war und niemals zurückkommen würde.

Als sie das Geräusch gehört hatte, hatte Hallie die Lampe angeschaltet und die Dinge in ihrem Zimmer gemustert. Alles war an seinem Platz. Die leuchtenden Zahlen ihres Weckers zeigten 3:07 Uhr an. Der pflichtbewusste Teil in ihr, den sie von den Costas geerbt hatte, ermahnte sie, dass morgen Schule war. Doch um diese Zeit gewann der ungebärdige Geist ihrer Mutter stets die Oberhand. Sie knipste das Licht wieder aus, holte die Taschenlampe unter dem Bett hervor und nahm ihre Jacke von dem Haken, der wie eine Muschel geformt war.

Normalerweise achtete sie darauf, ihren Vater nicht zu wecken, wenn sie in der Dunkelheit umherschlich. Doch in dieser Nacht ging sie leise durch den Flur zu seinem Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und sie überlegte, ob sie zu ihm ins Bett krabbeln sollte. Sie konnte seine Wärme beinahe spüren, seinen Arm unter ihrem Nacken, und sie hörte förmlich sein verschlafenes Gemurmel. Schlecht geträumt, Spatz?

War es das? Hatte sie schlecht geträumt? Sie knöpfte die Jacke zu, denn die Kälte hatte sich im Haus breitgemacht. Dann sah sie auf ihre blassen Füße hinunter und wünschte, sie hätte ihre roten Turnschuhe angezogen. Ihr Vater drehte sich mit einem Stöhnen im Bett um, als ob er ihre Anwesenheit spürte. Wenn sie noch eine Sekunde länger dort stehen blieb, würde er ganz sicher die Augen öffnen.

[...]

Hallie wunderte sich, dass ihr Vater trotz seiner berühmt-berüchtigten feinen Beobachtungsgabe noch nichts von ihren heimlichen Ausflügen aufs Dach mitbekommen hatte. Die Einzige, die etwas davon wusste, war ihre beste Freundin Felicia, der sie sich eines Tages auf dem Spielplatz anvertraut hatte.
„Ich glaube, du vermisst einfach nur deine Mom“, hatte Felicia gesagt und dabei ihre weizenblonden Zöpfe zwischen den Fingern gedreht und Hallie angesehen wie eine Therapeutin. „Du gehst da rauf, weil du nach ihr suchst.“

„Liz Cooper hat damit nichts zu tun“, hatte Hallie energisch eingewandt und sofort bereut, dass sie überhaupt davon angefangen hatte. „Außerdem ist es wissenschaftlich unmöglich, jemanden zu vermissen, an den man sich nicht einmal erinnert.“

Niemals würde sie zugeben, dass sie nicht aufs Dach kletterte, um ihre Mutter zu suchen, sondern um ihr vielmehr zu entkommen. Thorne House gehörte in vielerlei Hinsicht immer noch Liz Cooper, deren erste Renovierungsanläufe und Träume von einer großen Familie, die das Haus füllen würde, auf dem Highway ein abruptes Ende gefunden hatten. Obwohl Nicks Praxis nach und nach das ganze Erdgeschoss erobert hatte, drängten sich immer noch überall die Erinnerungen an sie.

[...]

Nur der Witwensteig gehörte ihr allein. Der größte Teil des Sprossengeländers war verrottet, und das, was noch übrig war, neigte sich gefährlich Richtung Gehweg, doch die hölzerne Plattform war noch immer so tragfest wie damals, als ein Walfischer namens Isaiah Thorne das Haus gebaut hatte. Der hiesigen Legende zufolge hatte dessen Frau Mary stundenlang dort oben gesessen, oft auch nachts, und nach dem Schiff ihres Mannes Ausschau gehalten. Als Hallie die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, war ihre Neugier geweckt worden. Nur einmal, hatte sie sich geschworen, weil sie wusste, wie ihr Vater reagieren würde, falls er es herausfand. Doch als sie die Nähe der Sterne spürte, war sie sofort verzaubert. Sie streckte die Arme in die Nachtluft und stellte sich vor, dass sie ein langes weißes Rüschenkleid und Knöpfstiefel trug, anstelle ihres zusammengewürfelten Schlafanzugs und der nackten Füße, und dass sie auf die Rückkehr eines gut aussehenden Kapitäns wartete. Von da an überkam sie jedes Mal, wenn sie die schwere Luke aufdrückte, ein berauschendes Gefühl von Erlösung und – ja, Verheißung. Trotz ihres Schwurs zog es sie immer wieder aufs Dach, manchmal sogar jede Woche.

Es gab nur ein Hindernis zwischen ihr und dem Ort, wo sie alles sein konnte, was sie wollte: den Maler, der den Dachboden als Atelier gemietet hatte. Die Leute nannten ihn Wolf, wegen seiner außergewöhnlich hageren Gestalt und der geradezu raubtierhaften Art, sich die Landschaft einzuverleiben. Nick, der ihn wegen seines Asthmas behandelte und seine Arbeit bewunderte, war als Einziger so etwas wie ein Freund für ihn.

Drei Jahre zuvor hatte Wolf Nick überredet, ihm den Dachboden als Atelier zu vermieten, aber es zeigte sich bald, dass er weit mehr wollte. Er blieb immer öfter so lange im Atelier, bis es Abendessenszeit war, denn er wusste, er brauchte nur vor der Küche stehen zu bleiben, und schon stellte Nick einen weiteren Teller auf den Tisch. Dennoch hatte Hallie sich erschrocken, als sie bei einem ihrer nächtlichen Ausflüge aufs Dach Wolf dort oben entdeckt hatte, der auf einer Matratze in der Ecke lag und schlief. Zum Glück erschöpfte ihn dieselbe Energie, die seine Arbeit so befeuerte, denn wenn er erst einmal schlief, rührte er sich meist nicht mehr.

Den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gesenkt, schlich Hallie zwischen dem Krempel auf dem Dachboden hindurch. Vorsichtig, um Wolf nicht zu wecken, öffnete sie die Luke. Die Sterne waren klar und kalt und schienen näher als je zuvor. Es war windstill, aber sie spürte den besonderen Luftdruck, der einen Nordoststurm ankündigte. Er war so stark, dass sie, als sie sich die Hand auf die Brust legte, das Gefühl hatte, die Leiter, die seit über hundert Jahren an die Wand genagelt war, würde plötzlich wackeln.

Im ersten Moment wollte sie die Luke wieder zuziehen und so schnell wie möglich in ihr Zimmer zurücklaufen. Doch als sie an die unheimliche Stille dachte, die sie hier hochgetrieben hatte, kletterte sie schließlich aufs Dach und richtete den Blick fest auf das grüne Licht des Leuchtturms von Long Point. Die kleinen Boote, die im Mondlicht schimmerten, lagen fast reglos auf dem Wasser. Asa Quebrada öffnete ein Auge, rückte seine schwarzspitzigen Flügel zurecht und schlief weiter.

Wie immer setzte Hallie sich neben ihn. Als ihre Füße vor Kälte taub wurden, zog sie die Knie an die Brust und bedeckte die Zehen mit ihrem Schlafanzug. Schließlich stand sie auf, trat an den Rand des Daches und ließ den dürftigen Strahl ihrer Taschenlampe über den Ort gleiten, auf der Suche nach etwas, das sie nicht benennen konnte.

So weit ihr Blick reichte, waren alle Häuser in Provincetown dunkel, und die gewundenen Straßen, auf denen sich während der hellen Sommertage die Menschen drängten, lagen verlassen da. Mit wenigen Ausnahmen hatten alle Restaurants und Bars nach dem Ende der Saison geschlossen, und die Stadt an der Spitze von Cape Cod gehörte wieder den Leuten, die das ganze Jahr über dort lebten.

Die Häuser mit ihren grauen Schindeldächern, die sich dicht aneinander schmiegten, gaben ihr normalerweise ein Gefühl der Sicherheit. Doch um drei Uhr morgens wirkte die schmale Landzunge, die von dunklem, unberechenbarem Wasser umgeben war, besonders verletzlich. Völlig unvermittelt wurde Hallie von Angst gepackt, und dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. Ein tiefer Schmerz, so unvorhersehbar und mächtig wie der Ostwind, drang in ihre Knochen und ließ sie erzittern. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Das Geräusch eines anspringenden Motors ließ sie zusammenzucken, und kurz darauf rollte ein Auto die Straße entlang. Asa Quebrada reckte seine Flügel und stieß ein langes, verärgertes Kaaa aus. Sonst liebte Hallie seine melancholischen Rufe, aber als er nun über die Bucht davonglitt, klang er eher wie eine Krähe. Sie rief nach ihrem Vater, mit dem Namen, den sie nur selten benutzte: Papai!

Noch immer rufend rannte sie zur Luke und hangelte sich die Leiter hinunter. Die Luke klappte hinter ihr wieder auf, so dass die Sterne und die Kälte des nahenden Winters ins Haus drangen, doch sie kümmerte sich nicht darum. Wolf, der nahe beim Fenster lag, rührte sich unter seiner Decke und schrak hoch. In seinem Gesicht, auf das der zuckende Schein ihrer Taschenlampe fiel, zeichneten sich die Dämonen ab, die er tagsüber so mühsam versteckte. „Grundgütiger, Hallie. Was zum Teufel –“

Hallie hörte ihn weiter fluchen, während er hinaufkletterte und geräuschvoll die Luke schloss. Verfluchtes Gör.

Sie rannte die Treppe hinunter und durch den Flur, und ihre Taschenlampe kritzelte wilde Muster auf die Wände und den Boden. Der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie fast genauso wie das merkwürdige Gefühl oben auf dem Dach und der Anblick von Wolfs Gesichtsausdruck.

Papai! Nick –“, schrie sie und stürmte in sein Schlafzimmer. Doch als sie das leere Bett sah, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Der Telefonhörer, der auf dem Nachttisch lag, gab ein misstönendes Piepen von sich. Hallie ging hinüber und legte ihn auf die Gabel. Vom Fenster aus konnte sie sehen, dass in Stuarts Schlafzimmer Licht brannte. Sie fragte sich, warum sie es vom Dach aus nicht bemerkt hatte und warum er es nicht wie sonst ausgeschaltet hatte, wenn er herüberkam.

Hallie trat wieder in den Flur und lauschte auf die leise Musik, die Stuart immer laufen ließ, wenn er unten auf dem Sofa döste. Stattdessen hörte sie, wie er im Arbeitszimmer auf und ab lief.

Sie wollte gerade hinuntergehen und fragen, was passiert war, als die Schritte verstummten und dafür Ella Fitzgerald etwas von Flugzeugen und Champagner sang. Eins von Nicks Lieblingsliedern. Stuart zog seine Schuhe aus. Eins, zwei. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie er sie ordentlich neben das Sofa stellte, wie er es immer tat, bevor er sich mit dem Quilt zudeckte. Die Welt, die für einen Moment in Schieflage geraten war, rückte sich wieder zurecht.

Hallie mochte Ella nicht besonders. (Zu schmalzig, maulte sie, weil sie vermutete, dass die romantischen Texte und die sehnsuchtsvolle Stimme ihren Vater an Liz Cooper erinnerten.) Doch als sie jetzt wieder unter ihre Decke schlüpfte, umklammerte sie die Musikfetzen wie ein Amulett. Sie sang die Worte nicht mit, aber sie drehten sich in ihrem Kopf wie eine Schallplatte auf dem Plattenspieler aus Nicks Collegezeit. Sie hörte sie mit seiner Stimme ... But I get a kick out of youuuu.

Wäre er dagewesen, hätte sie ihm ihre nächtlichen Ausflüge aufs Dach gestanden und ihm von dem merkwürdigen Gefühl erzählt, das ihr solche Angst gemacht hatte. Doch wie sich herausstellte, würde sie nie jemandem von den Erlebnissen dieser Nacht erzählen. Weder ihrem Vater noch Felicia. Und auch nicht dem Jungen, der am anderen Ende der Stadt in einem Schrank kauerte, während Hallie endlich einschlief. Dem Jungen, mit dem ihr Geist sich auf eine Weise verbunden hatte, die sie niemals, ihr Leben lang nicht würde erklären können.