Eoin Colfer: WARP – Die Katzenhexe


Ein Zeugenschutzprogramm in der Vergangenheit. Dafür wurde WARP vom FBI ursprünglich entwickelt. Aber durch einen Riss im Zeittunnel sind einige der WARP-Agenten im Jahr 1647 gestrandet. Prompt werden sie von der überraschten Bevölkerung für Hexen gehalten und gnadenlos verfolgt. Auch FBI-Junior-Agentin Chevie Savano und ihr Freund Riley landen in diesem dunklen Zeitalter und treffen auf einen alten Widersacher: Quantenzauberer Albert Garrick, in dieser Epoche der erfolgreichste Hexenjäger von allen. Jetzt hat Garrick nur noch ein Ziel: Rache an seinem ehemaligen Lehrling Riley und dessen Gefährtin Chevie, der Katzenhexe!

Jugendbuch

Loewe (2016)

Originaltitel: W.A.R.P. The Forever Man

ISBN 978-3-7855-8261-9

EUR 17,95




Leseprobe

Gefängnis von Newgate, London. 1899

 Das Gefängnis von Newgate war der berüchtigtste, hässlichste Elendsklotz, der je im alten Stadtzentrum von London errichtet worden ist. Er wurde vor langer, langer Zeit, nämlich im letzten Wimpernschlag des zwölften Jahrhunderts, von Harry Plantagenet (auch bekannt als Heinrich II.) in Auftrag gegeben und ein paar Jahrhunderte später nach den Vorgaben des Lord Mayor Dick Whittington höchstpersönlich umgebaut – was in den Geschichtsbüchern nur selten erwähnt wird.

 Gestaltet nach den Prinzipien der französischen Architecture Terrible, sprich: wuchtig und mit gezielt abstoßendem Aussehen, sollte das Gebäude jedem, der zu ihm aufsah, als Warnung vor dem Schicksal dienen, das ihm drohte, wenn er ein Leben als Verbrecher wählte. Das Gefängnis besaß nicht eine einzige elegante Linie, und es kam so gut wie kein Tageslicht hinein.

 Vor dieser Furcht einflößenden Festung, eingeschüchtert vom Wehgeschrei etlicher Häftlinge, standen der junge Zauberer Riley, noch keine fünfzehn Jahre alt, und seine Gefährtin Chevron Savano, stolze Kriegerin aus der Zukunft und gerade mal zwei Jahre älter als er. Beide dachten sinngemäß:

 Das ist die Hölle auf Erden.

 Und:

 Wir müssen Tom da rausholen.

 „Das lässt sich sicher mit Gold regeln, Chevie“, sagte Riley mit einem leichten Zittern in der Stimme, das nur jemand, der ihn sehr gut kannte, bemerken würde. „Schließlich ist fast jeder käuflich. Hier im Gate ist der Zaster König.“

 „Ganz bestimmt“, sagte Chevie und drückte seine Hand.

 Und in der Tat hatte der junge Riley recht.

 Das Gefängnis von Newgate war genauso ein Finanzunternehmen wie die Bank of England. Essen, Kleider, Familienunterbringung – für Geld bekam man dort alles, selbst die Befreiung von den Fußfesseln oder einen Schluck Laudanum, um die Nerven eines Verurteilten auf seinem kurzen Weg zum dreiarmigen Galgen zu beruhigen.

 Und man musste kein Mörder sein, um gehenkt zu werden. Es gab Hunderte von Verbrechen, für die man, ganz gleich ob Mann oder Frau, die Aufforderung bekam, den Newgate Jig zu tanzen. Eines davon war, seine Schulden nicht zu bezahlen.

 London war eine Handelsstadt, und für viele der dort ansässigen Geschäftsleute galt Wortbruch als ein abscheuliches Verbrechen. Ein Mann, der seine Nächsten um ihr Geld betrog, verdiente es, unter dem Gejohle seiner Mitgefangenen den Hals lang gezogen zu kriegen. Und nach allem, was man wusste, steckte Tom Riley, allgemein unter dem Namen Ginger bekannt, bis zum Adamsapfel in Schulden. Sein Schicksal war besiegelt.

 Es sei denn ...

 Es sei denn, der Geschädigte bekam sein Geld zurück.

 In dem Fall wäre alles wieder Friede, Freude, Eierkuchen, und Ginger würde in eine strahlende Zukunft entlassen.

 Doch nicht so schnell, mein Junge. Nicht so hastig.

 Geschäfte dieser Art auszuhandeln war schwieriger, als einen Knoten in einen eingelegten Aal zu machen. Die eine Partei hatte der anderen bereits die Schlinge um den Hals gelegt, und es brauchte schon einen wahrhaft begabten Feilscher, um den Knoten wieder zu lösen, zumal Tom einen Mann von großem Einfluss betrogen hatte, genauer gesagt Sir James Maccabee, den besten Anwalt von ganz London, der mehr Seelen auf seinem Kerbholz hatte als der Große Brand.

 Riley hätte sich selbst als Feilscher versuchen können, doch Maccabee hätte ihn in der Luft zerrissen, und so hatte er die berühmte Gefängnisunterhändlerin Tartan Nancy Grimes engagiert, der es sogar gelungen wäre, Napoleon Bonaparte auszutricksen, wenn der kleine Franzose das Pech gehabt hätte, ihr am Verhandlungstisch gegenüberzusitzen.

 Und so war Tartan Nancy gekommen, hatte die Goldmünze, die man ihr als Anzahlung gab, mit den Zähnen auf ihre Echtheit geprüft und war umgehend ins Innere des Gefängnisses verschwunden, um herauszufinden, was Sache war, wer zuständig war und vor allem, wie hoch der Preis war.

 Und jetzt warteten Chevie und Riley darauf, dass die Feilscherin zurückkam. Sie warteten mitten im Gewimmel der Barackensiedlung, die sich im Schatten von Newgate gebildet hatte und alle paar Wochen von der Miliz zerstört wurde, aber im Handumdrehen wieder nachwuchs wie ein besonders hartnäckiges Unkraut. Sie warteten umgeben von mittellosen Familien und Besuchern und Händlern und Kriegsveteranen. Beide wandten den Blick ab von der lärmenden menschlichen Tragödie, die sie umgab – Riley, weil er seine eigenen Sorgen hatte, und Chevie, weil sie noch nicht überzeugt war, dass auch nur irgendetwas hiervon wirklich existierte.

 Ich liege im Koma, sagte sie sich immer wieder. Ich liege im Koma, und das kommt davon, wenn man spätabends Charles Dickens liest.

 Das war eine vernünftige Theorie, auf jeden Fall wesentlich glaubwürdiger als das, was ihr bisher als Wirklichkeit verkauft worden war: FBI, Zeitmaschinen, mordende Zauberer, größenwahnsinnige Colonels und so weiter.

 Koma hin oder her, Chevie hatte sich bereit erklärt, ein Kleid aus dem Fundus des Orient Theatres über ihren eng anliegenden FBI-Overall zu ziehen, um Riley Peinlichkeiten zu ersparen. Als Krönung verbarg sie ihr schwarzes Haar und ihr dunkles Gesicht unter einer Haube aus Stroh, damit sie kein unnötiges Aufsehen erregten.

 Mit diesem Monstrum sehe ich aus wie Darth Vaders Tochter, hatte sie in der Garderobe gedacht.

 Doch als einzige Shawnee-Indianerin in ganz England zog sie schon genug neugierige Blicke auf sich, da musste sie nicht noch in einem Outfit herumlaufen, das für dieses Zeitalter schockierend unmoralisch war.

 Oder wie Riley es formuliert hatte: „Die Leute machen schon Stielaugen, ohne dass du wie eine Dirne herumscharwenzelst.“

 Da Chevie annahm, dass eine Dirne nicht unbedingt etwas Positives war, hatte sie die Haube zähneknirschend unter dem Kinn zusammengebunden, sich dabei aber gefragt, warum Riley mit seinem Zauberermantel auf der Straße herumlaufen konnte, obwohl das bestimmt auch Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Doch als sie sich nun umsah, musste sie zugeben, dass hier jede Menge Männer mit Umhängen herumliefen. Sie kam sich vor wie bei einer historischen Comic Con.

 Einige Zeit später tauchte die stämmige Gestalt der Feilscherin aus einem Seitentor auf. Ohne die Gossenkinder zu beachten, die sich um ihre voluminösen Röcke drängten und um ein paar Tabakbrösel oder einen Schluck Gin bettelten, winkte sie Chevie und Riley zu sich, und gemeinsam eilten sie zur anderen Straßenseite, wo Nancy sich mit einem Stück Glut aus einem Feuerkorb ihre Pfeife anzündete. Abgebrüht wie sie war, hielt Tartan Nancy das Glutstück in der bloßen Hand, den kleinen Finger abgespreizt, als würde sie Sahne aus einem Silberkännchen gießen.

 Tartan Nancy Grimes war keine Schottin, und sie trug auch nicht den Tartan irgendeines Clans. Während die beiden auf Nancys Rückkehr warteten, hatte Riley Chevie aufgeklärt, dass der Spitzname „Tartan“ von einem Cockney-Reim auf „fartin’“ stammte, der auf die gasreichen Innereien der Unterhändlerin anspielte.

 Oh, hatte Chevie gesagt, und dann: Ohhhh, als der Groschen fiel.