Brian Sewell: Pawlowa oder Wie man einen Esel um die halbe Welt schmuggelt


Auf einer Reise in Pakistan sieht Mr B, ein britischer Gentleman, eine kleine Eselin: Sie ist vollbepackt, ihre dünnen Beine zittern unter der schweren Last. Kurzerhand springt Mr B ihr bei, fest entschlossen, sich um das Tier zu kümmern und es mit nach Hause zu nehmen. Das einzige Problem: Sein Zuhause liegt in London, und eine Eselin kann nicht im Flugzeug reisen. Also begeben sich Mr B und Pawlowa, wie er die Eselin von nun an nennt, auf eine lange Reise durch den Mittleren und den Nahen Osten bis nach Europa - zu Fuß. Die Reise führt sie an einige der faszinierendsten Orte dieser Erde, bis sie plötzlich getrennt werden: Mr B wird grundlos in der Türkei ins Gefängnis gesteckt. Und der Reise droht ein abruptes Ende.

Roman

Insel (2017)

Originaltitel: The White Umbrella

ISBN 978-3-458-17700-5

EUR 14,00




Leseprobe

Mr B, ein drahtiger kleiner Mann von fünfzig Jahren mit weißem Haar, saß auf dem Rücksitz eines großen weißen Land Rover, als er den Esel sah. Es war früher Abend, und der dichte Feierabendverkehr in Peschawar bewegte sich nur im Schneckentempo vorwärts – was auch gut war, denn Mr B öffnete plötzlich die Tür, sprang auf die Straße und verschwand ohne ein Wort zwischen den Karren und Lieferwagen, den Bussen und Motorrädern.

Seine Gefährten, ein Fernsehteam aus London – denn Mr B war im nördlichen Pakistan, um einen Film über die Vorgeschichte dieses Landes zu drehen –, waren überrascht. Dominic, der Jüngste und Unwichtigste, aber auch der Größte und Gelenkigste von ihnen, besaß die Geistesgegenwart, ebenfalls aus dem Auto zu springen und Mr B hinterherzulaufen. Sie mochten Mr B nicht besonders. Er nahm seine Arbeit ernst und wusste eine Menge über antike Geschichte, aber er begriff nicht, dass sein Wissen bei der Produktion von Fernsehdokumentationen niemanden interessierte, und dass er als Moderator lediglich die Marionette des Regisseurs und des Kameramanns war.

Bereits zwei Tage nach der Ankunft in Pakistan sprachen sie kaum noch miteinander. Der Kameramann wollte nur die bunt bemalten Laster und Transporter filmen, die unablässig vorbeidonnerten, besetzt mit Passagieren, die sich an allem festhielten, was sich ihren Händen oder Füßen bot. Wenn ihnen ein Büffel oder ein Kamel über den Weg lief, befahl der Regisseur Mr B sofort, auf dessen Rücken zu klettern; außerdem nötigte man ihn, das Essen von allen möglichen Straßenständen zu kosten und auf diversen Musikinstrumenten zu spielen. Mr B hingegen, der wusste, dass zweitausenddreihundert Jahre zuvor Alexander der Große, der ruhmreichste Held der Geschichte der griechischen Antike, seine Armeen den ganzen weiten Weg von Mazedonien nach Pakistan geführt hatte, wollte erforschen, ob in der heutigen Sprache, Kultur und Tradition noch immer Spuren dieser Eroberung existierten. Vor allem aber hätte er gerne in den abgelegeneren Regionen des Hindukusch einen stolzen pakistanischen Krieger gefunden, der in der Lage war, sich mit ihm auf Altgriechisch zu unterhalten. Doch in den vergangenen zwei langen Wochen hatte man Mr B nicht gestattet, etwas in der Art zu finden, und mittlerweile platzte er beinahe vor Ärger und Enttäuschung.

Allein dass sie ihn Mr B nannten, zeigte schon, welche Kluft sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Da sie höchst unfreundliche Gefühle für ihn hegten, wollten sie seinen Vornamen nicht benutzen, und ihn mit dem Nachnamen anzusprechen, hätte womöglich den Schluss nahegelegt, dass sie ihm wegen seines Wissens großen Respekt entgegenbrachten, was nun wirklich nicht zutraf. Es war der junge Dominic – der ihn tatsächlich mochte und respektierte und sehr gut verstand, wie schmerzhaft es für ihn sein musste, zuzusehen, wie der Film, den er sich vorgestellt hatte, sich zusehends in Luft auflöste –, der ihn als Erster mit Mr B angeredet hatte, und die anderen hatten es dann übernommen. Ihn Mr B zu nennen, war nicht offen feindselig, aber es zeugte von einer gewissen Distanz, und Dominic gelang es, diese glaubwürdig zugetan wirken zu lassen.

Als Dominic Mr B eingeholt hatte, stand dieser neben einem kleinen Esel, hatte den Arm um dessen Hals gelegt und tupfte mit seinem Taschentuch das Blut von vier tiefen Wunden im Rücken des Tieres. Sie stammten von einer Art Sattel aus Weidenruten, der in Pakistan verwendet wird, um eine ebene Ladefläche für die gewaltigen Lasten zu haben, die die Esel dort häufig tragen müssen. Doch dieser Esel, das sah Dominic sofort, war noch viel zu jung zum Arbeiten. Außerdem sah Dominic, dass Mr B mächtig wütend war. „Ich wette, die Kleine ist noch nicht mal ein halbes Jahr alt. Vielleicht wird sie sogar noch von ihrer Mutter gesäugt. Jeder Dummkopf kann sehen, dass ihre Knochen und Gelenke noch nicht ausgewachsen sind!“

In diesem Moment kamen der dicke Regisseur und der Kameramann schwitzend und keuchend angelaufen. Dominic erklärte die Situation. „Lassen Sie den Esel und steigen Sie wieder ins Auto“, verlangte der Regisseur. „Nicht ohne die Eselin“, sagte Mr B. „Ich kann und werde sie nicht einfach hier zurücklassen.“ Während sie stritten, wurden ihre Stimmen immer lauter, und um sie herum bildete sich ein Ring aus verständnislosen Zuschauern. Es wäre vernünftig gewesen, die kleine Eselin ihrem Schicksal zu überlassen und nach Islamabad weiterzufahren, von wo sie am nächsten Tag nach London zurückfliegen würden, doch Mr B war kein vernünftiger Mann – im Gegenteil, wenn man ihn provozierte, konnte er ausgesprochen unvernünftig sein. „Wir fahren ohne Sie“, drohte der dicke Regisseur. „Nur zu“, erwiderte Mr B erstaunlich klar und entschlossen. Der Kameramann nahm seinen Arm, doch Mr B schüttelte ihn ab. „Was werden Sie tun, wenn wir Sie hier zurücklassen?“, fragte Dominic leise. „Zu Fuß nach Hause gehen“, sagte Mr B. „Mit der Eselin.“ Und er lächelte übers ganze Gesicht.

Eine ganze Stunde lang rangen sie miteinander, und die Menge, die sich langweilte, weil niemand zu Tode kam oder auch nur verletzt wurde, löste sich auf, bis nur noch Mr B und das Fernsehteam zurückblieben. Es wurde dunkel, doch nicht einmal die abendliche Kälte konnte Mr Bs Entschlossenheit etwas anhaben. Schließlich holte Dominic Mr Bs Gepäck aus dem Auto und half ihm, nur das Nötigste davon in einen kleinen, bequemen Rucksack zu packen, der Mr B schon auf vielen Reisen und Wanderungen begleitet hatte: seinen Waschbeutel, eine Nagelschere, ein noch unbenutztes Notizbuch, ein paar Stifte und Kleider, die ihn warm und trocken halten würden. Dominic dachte auch daran, Mr B seinen Schirm zu bringen – und das war kein gewöhnlicher Schirm. Er bestand aus festem weißem Leinen, einem sorgsam verarbeiteten Metallgestänge und einem schweren, auch zum Wandern verwendbaren Holzstock, und Mr B hatte ihn sich zehn Jahre zuvor nur einen Steinwurf vom British Museum entfernt anfertigen lassen, von der Firma James Smith und Söhne (und Enkel und Urenkel und so weiter, denn ihren ersten Schirm hatten sie im Jahr 1830 hergestellt, dem Jahr, als Wilhelm IV. auf den Thron kam). Der Stoff war nicht mehr weiß, denn dieser Schirm hatte bereits die Sahara und ihre Sandstürme erlebt, als Mr B dort nach Spuren prähistorischer menschlicher Besiedlung gesucht hatte, und er war mit ihm in Pompeji und im hintersten Winkel Siziliens gewesen, ja, im Grunde überall zwischen Barcelona und Bagdad, und er hatte sich als der Rolls-Royce aller Schirme erwiesen.

„Was sollen wir den Leuten sagen, wenn wir wieder in London sind?“, fragte der Regisseur, der immer noch nicht recht glauben mochte, dass sich ihre Wege hier trennten.

„Die Wahrheit: dass ich eine kleine Eselin gefunden habe und mit ihr zu Fuß nach Hause gehe.“

„Sie sind verrückt“, sagte der Regisseur.

„Mag sein“, sagte Mr B. „Aber es ist eine anständige Art von Verrücktheit, zu der Sie nicht fähig sind. Wir sehen uns dann in einem Jahr oder so.“

Worauf der Regisseur schroff erwiderte: „Von mir aus können Sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Sie und ihr verdammter Esel.“

Dominic, der als Letzter zum Land Rover zurückging, umarmte Mr B zum Abschied und flüsterte: „Ich sage dem Außenministerium Bescheid – und natürlich Mrs B.“