Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt


August 1869: Ein verschlafenes Bauerndorf an der Nordwestküste Schottlands wird von einem brutalen Dreifachmord erschüttert. Der Täter ist rasch gefunden. Doch was trieb den siebzehnjährigen Roderick Macrae, Sohn eines armen Landwirts, dazu drei Menschen auf bestialische Weise zu erschlagen? Während Roddy im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, stellen die scharfsinnigsten Ärzte und Kriminaler des Landes Nachforschungen an, um seine Beweggründe aufzudecken. Ist der eigenbrötlerische Bauernjunge geisteskrank? Roddys Schicksal hängt nun einzig und allein von den Überzeugungskünsten seines Rechtsbeistandes ab, der in einem spektakulären Prozess alles daran setzt, Roderick vor dem Galgen zu bewahren ... 

Kriminalroman

Europa (2017)

Originaltitel: His Bloody Project

ISBN 978-3-95890-055-4

EUR 17,99




Leseprobe

Ich schreibe dies auf Anraten meines Rechtsbeistands, Mr. Andrew Sinclair, der mir seit meiner Inhaftierung hier in Inverness mit einer Freundlichkeit begegnet, die ich gewiss nicht verdiene. Mein Leben war kurz und ohne große Bedeutung, und ich habe keineswegs die Absicht, mich der Verantwortung für die Taten, die ich begangen habe, zu entziehen. Dass ich diese Worte zu Papier bringe, entspringt also lediglich dem Wunsch, mich für die Freundlichkeit meines Rechtsbeistands erkenntlich zu erweisen.

Mr. Sinclair hat mich angewiesen, so klar wie nur möglich die Umstände zu schildern, die zu dem Mord an Lachlan Mackenzie und den anderen geführt haben, und das werde ich nach bestem Vermögen tun, wobei ich mich bereits im Vorhinein für die Begrenztheit meines Wortschatzes und die Ungeschliffenheit meines Stils entschuldige.

Als Erstes möchte ich sagen, dass ich diese Taten aus dem einzigen Grund begangen habe, meinen Vater von den Widrigkeiten zu erlösen, die er in letzter Zeit erdulden musste. Der Auslöser dieser Widrigkeiten war unser Nachbar Lachlan Mackenzie, und ich habe ihn aus dieser Welt entfernt, um das Schicksal meiner Familie zum Besseren zu wenden. Außerdem sollte ich hinzufügen, dass ich meinem Vater vom Tag meiner Geburt an eine Last war, und es kann nur zu seinem Wohle sein, wenn ich diesen Haushalt verlasse.

Mein Name ist Roderick John Macrae. Ich bin 1852 geboren und habe mein ganzes Leben im Dorf Culduie in Ross-shire verbracht. Mein Vater, John Macrae, ist ein Crofter von unbescholtenem Ruf in der Gemeinde, der es nicht verdient hat, den Makel der schrecklichen Taten zu tragen, für die ich allein verantwortlich bin. Meine Mutter Una wurde 1832 in Toscaig geboren, einer kleinen Stadt, die etwa zwei Meilen südlich von Culduie liegt. Sie starb 1868 bei der Geburt meines Bruders Iain, und aus meiner Sicht war dies der Beginn unserer Schwierigkeiten.

 

Culduie ist eine Ortschaft mit neun Häusern in der Gemeinde Applecross. Sie liegt etwa eine halbe Meile südlich von Camusterrach, wo sich die Kirche und Schule, in der ich meine Ausbildung erhalten habe, befinden. Da es in Applecross ein Gasthaus und einen Markt gibt, kommen nur selten Reisende bis nach Culduie. An der Spitze der Applecross Bay liegt das Gutshaus, wo Lord Middleton wohnt und während der Jagdsaison seine Gäste empfängt. In Culduie gibt es keine Sehenswürdigkeiten oder Amüsements, die Besucher anlocken könnten. Die Straße, die unser Dorf passiert, führt nur nach Toscaig, sonst nirgendwohin, und so haben wir wenig Kontakt mit der Außenwelt.

Culduie liegt etwa dreihundert Meter vom Meer entfernt am Fuß des Càrn nan Uaighean. Zwischen dem Dorf und der Straße liegt ein Streifen fruchtbaren Bodens, der von den Einwohnern bestellt wird. Weiter oben in den Bergen befinden sich die Sommerweiden und die Moore, wo wir unseren Torf stechen. Culduie ist durch die Halbinsel von Aird-Dubh, die ins Meer hinausragt und einen natürlichen Hafen bildet, vor den schlimmsten Unwettern geschützt. Das Dorf Aird-Dubh hat nur wenig fruchtbares Land, und die Menschen dort verdienen ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit der Fischerei. Es gibt einen gewissen Austausch von Arbeitskraft und Gütern zwischen den beiden Orten, aber abgesehen von solchen Notwendigkeiten halten wir uns voneinander fern. Laut meinem Vater sind die Leute aus Aird-Dubh schlampig in ihren Gewohnheiten und von fragwürdiger Moral. Daher vermeidet er jeden Kontakt mit ihnen, sofern es nicht unumgänglich ist. Wie es bei allen Angehörigen des Fischereiberufs üblich ist, geben die Männer sich dem hemmungslosen Genuss von Whisky hin, und ihre Frauen sind berüchtigt für ihre Liederlichkeit. Da ich mit Kindern aus diesem Dorf zur Schule gegangen bin, kann ich bestätigen, dass sie sich zwar äußerlich kaum von unsereins unterscheiden, aber von hinterhältigem Wesen und keineswegs vertrauenswürdig sind.

An der Kreuzung des Feldwegs, der Culduie mit der Straße verbindet, liegt das Haus von Kenny Smoke, das als einziges ein Schieferdach hat und das schönste im Dorf ist. Die anderen acht sind aus Feldsteinen und Grassoden gebaut und haben Strohdächer. Jedes Haus hat ein oder zwei Glasfenster. Das Haus meiner Familie ist das nördlichste und liegt etwas versetzt, sodass wir auf das Dorf schauen, während die anderen Häuser zum Meer hinausgehen. Das Haus von Lachlan Broad liegt am anderen Endes des Wegs und ist nach dem von Kenny Smoke das zweitgrößte im Ort. In den übrigen Häusern wohnen zwei weitere Familien des Mackenzie-Clans, dann die MacBeaths, Mr. und Mrs. Gillanders, deren Kinder alle fortgezogen sind, unser Nachbar Mr. Gregor mit seiner Familie und Mrs. Finlayson, eine Witwe. Außer den neun Häusern gibt es noch verschiedene Nebengebäude, die meisten davon kaum mehr als Bretterverschläge, in denen Vieh, Werkzeug und dergleichen untergebracht ist. Das ist unsere gesamte Ortschaft.

Unser Haus besteht aus zwei Räumen. Im größeren befindet sich der Stall und, rechts von der Tür, unser Wohnraum. Der Boden fällt zum Meer hin leicht ab, damit der Mist der Tiere nicht in unseren Bereich läuft. Der Stall ist mit einer halbhohen Wand aus Holzstücken abgetrennt, die wir am Ufer aufgesammelt haben. In der Mitte des Wohnraums ist die Feuerstelle und dahinter der Tisch, an dem wir unsere Mahlzeiten einnehmen. Abgesehen von dem Tisch besteht unser Mobiliar noch aus zwei robusten Bänken, dem Lehnstuhl meines Vaters und einer großen hölzernen Anrichte, die meine Mutter mit in die Ehe gebracht hat. Ich schlafe zusammen mit meinem kleinen Bruder und meiner kleinen Schwester in einem Bett an der Rückwand. In dem zweiten Raum im hinteren Teil des Hauses schlafen mein Vater und meine ältere Schwester Jetta in einem Schrankbett, das mein Vater extra für sie gezimmert hat. Ich beneide meine Schwester um ihr Bett und habe oft davon geträumt, dort neben ihr zu schlafen, aber im Wohnraum ist es wärmer, und während der dunklen Monate, wenn die Tiere drinnen sind, genieße ich die gedämpften Laute, die sie von sich geben. Wir halten zwei Milchkühe und sechs Schafe, wie es uns gemäß der Einteilung des gemeinsamen Weidelands zusteht.

Ich sollte von Anfang an erwähnen, dass es bereits lange vor meiner Geburt böses Blut zwischen meinem Vater und Lachland Mackenzie gab. Allerdings weiß ich nicht, was der Ursprung dieser Feindseligkeit war, da mein Vater nie darüber gesprochen hat. Ebenso wenig kann ich sagen, wer die Schuld daran trägt und ob der Bruch zu ihren Lebzeiten geschah oder ob er irgendeiner fernen Vergangenheit entspringt. In dieser Gegend kommt es häufiger vor, dass Groll über lange Zeiten gehegt wird, selbst wenn niemand mehr weiß, wodurch er ausgelöst wurde. Ich muss meinem Vater allerdings zugutehalten, dass er nie versucht hat, diese Fehde fortzuführen, indem er mich oder meine Geschwister gegen die Mackenzies aufstachelte. Deshalb glaube ich, dass es sein Wunsch war, die Feindschaft zwischen unseren beiden Familien zu beenden.

Als kleiner Junge hatte ich Angst vor Lachlan Broad und vermied es, über die Wegkreuzung zum anderen Ende des Dorfes zu gehen, wo die ganzen Angehörigen des Mackenzie-Clans wohnen. Außer der Familie von Lachlan Broad leben dort noch die seines Bruders Aeneas und die seines Vetters Peter. Die drei sind berüchtigt für ihr Gezeche und ihre Raufereien im Gasthaus von Applecross. Sie sind alle große, kräftige Kerle, denen es gefällt, wenn die Leute vor ihnen ausweichen, um ihnen Platz zu machen. Einmal, als ich fünf oder sechs Jahre alt war, ließ ich einen Drachen steigen, den mein Vater mir aus ein paar Stücken Sackleinen gebastelt hatte. Der Drachen stürzte auf eines der Felder, und ich lief ohne nachzudenken los, um ihn aufzuheben. Als ich auf der Erde hockte und versuchte, die Schnur zu befreien, die sich im Getreide verfangen hatte, packte mich eine große Hand an der Schulter und zerrte mich grob nach oben. Ich hatte den Drachen in der Hand, und Lachlan Broad entriss ihn mir und schleuderte ihn zu Boden. Dann verpasste er mir eine so heftige Ohrfeige, dass ich hinfiel. Vor lauter Angst verlor ich die Kontrolle über meine Blase, was unseren Nachbarn sehr erheiterte. Dann packte er mich erneut, zerrte mich quer durchs Dorf zu unserem Haus und beschimpfte meinen Vater, weil ich sein Feld beschädigt hatte. Der Lärm lockte meine Mutter an die Tür, und da ließ Broad mich los. Ich floh ins Haus wie ein verängstigter Hund und kauerte mich auf dem Bett zusammen. Am Abend kam Lachlan Broad noch einmal zu unserem Haus und verlangte fünf Shilling als Entschädigung für das Getreide, das ich niedergetrampelt hatte. Ich versteckte mich im hinteren Raum und lauschte an der Tür. Meine Mutter weigerte sich und sagte, wenn sein Getreide niedergetrampelt war, dann weil er mich durch sein Feld geschleift hatte. Daraufhin beschwerte Broad sich beim Constable, der den Vorfall als unwichtig abtat. Ein paar Tage später stellte mein Vater morgens fest, dass ein großer Teil unseres Feldes über Nacht zertrampelt worden war. Es wurde nie geklärt, wer das getan hatte, aber niemand zweifelte daran, dass es Lachlan Broad und seine Leute gewesen waren.

Auch später, als ich älter war, überfiel mich jedes Mal, wenn ich den unteren Teil des Dorfes betrat, eine ungute Vorahnung, und das ist bis heute so geblieben.