Cath Crowley: Das tiefe Blau der Worte


Als Rachel vor Jahren aus der Stadt weggezogen ist, hat sie Henry einen Liebesbrief hinterlassen, in seinem Lieblingsbuch in der Buchhandlung seiner Familie. Henry, ihrem besten Freund, ihrem Seelenverwandten. Und trotzdem hat er den Abend mit Amy verbracht und ist nicht gekommen, um sich zu verabschieden.

Nun ist Rachel zurück und arbeitet wieder in der Buchhandlung, zusammen mit Henry, den sie eigentlich nie wiedersehen wollte. Trotz allem verstehen sich die beiden immer noch, nähern sich wieder an und erneuern ihre Freundschaft.

Und während um sie herum in der Buchhandlung das Leben tobt, sich Dramen ereignen und Liebespaare finden, erobern sie sich einen Platz in einer Welt, in der es zum Glück Worte gibt. Und Liebe und Bücher und eine zweite Chance.

Jugendbuch

Carlsen (2018)

Originaltitel: Words in Deep Blue

ISBN 978-3-551-58372-7

EUR 17,99




Leseprobe

Um Mitternacht öffne ich die Augen, geweckt vom Rauschen des Meeres und vom Atmen meines Bruders. Es ist zehn Monate her, dass Cal ertrunken ist, aber die Träume fliehen immer noch davor.

In den Träumen bin ich ohne Angst, ein Teil des Meeres. Ich atme unter Wasser, die Augen offen, ohne Brennen vom Salz. Ich sehe Fische, einen Schwarm silberbäuchiger Monde, die unter mir flirren. Cal erscheint, bereit, sie zu identifizieren, aber es sind keine Fische, die wir kennen. „Hering“, sagt er, und seine Worte kommen in Blasen heraus, die ich hören kann. Aber die Fische sind keine Heringe. Auch keine Brassen oder irgendeine von den anderen Arten, die wir vorschlagen. Sie sind pures Silber. „Eine unbekannte Art“, sagen wir und schauen zu, wie sie uns umschließen und wieder freigeben. Das Wasser hat die Textur von Trauer: Salz und Wärme und Erinnerung.

Cal ist in meinem Zimmer, als ich aufwache. Milchweiß in der Dunkelheit, tropfnass vom Meer. Unmöglich, aber so real, dass ich Salz und Apfelkaugummi riechen kann. So real, dass ich die Narbe an seinem linken Fuß sehe – ein längst verheilter Schnitt von einer Glasscherbe am Strand. Er redet über die Traumfische: pures Silber, unbekannt und fort.

Ich taste in der Luft nach dem Traum, berühre stattdessen jedoch die Ohren von Cals Labrador Woof. Seit der Beerdigung folgt er mir überallhin, eine lange schwarze Linie, die ich nicht abschütteln kann. Meist schläft er auf dem Fußende meines Betts oder im Türrahmen meines Zimmers, aber die letzten beiden Nächte hat er neben meinen gepackten Koffern geschlafen. Ich kann ihn nicht mitnehmen. „Du bist ein Meereshund.“ Ich streiche ihm mit dem Finger über die Schnauze. „In der Stadt würdest du durchdrehen.“

Nach Träumen von Cal ist es vorbei mit dem Schlafen, deshalb klettere ich aus dem Fenster und gehe zum Strand. Der Mond ist dreiviertel leer. Die Nacht ist so warm wie der Tag. Gran hat Ende letzter Woche gemäht, und an meinen Füßen sammeln sich warme grüne Halme.

Zwischen unserem Haus und dem Wasser ist fast nichts. Nur die Straße, ein schmaler Streifen Gebüsch und dann Dünen. Die Nacht besteht nur aus Gewirr und Geruch. Salz und Baum; Rauch von einem Feuer weit hinten am Strand. Und auch aus Erinnerung. Sommerschwimmen und Nachtspaziergänge, die Suche nach Feigenschnecken und Schleimfischen und Seesternen.

Drüben beim Leuchtturm ist die Stelle, wo der Schnabelwal gestrandet ist: ein Riese von sechs Metern, die rechte Seite seines Kopfes auf dem Sand, das eine sichtbare Auge offen. Später standen eine Menge Leute drum herum – Wissenschaftler und Einheimische, die ihn studierten und bestaunten. Doch am Anfang waren da nur Mum und Cal und ich, in der Kühle des frühen Morgens. Ich war neun Jahre alt, und mit seinem langen Schnabel sah er für mich so aus, als wäre er halb Meereswesen, halb Vogel. Ich wollte so gerne das Wasser erforschen, aus dem er gekommen war, und die Dinge, die er vielleicht gesehen hatte. Cal und ich suchten den ganzen Tag in Mums Büchern und im Internet. Der Schnabelwal zählt zu den am wenigsten erforschten Meereswesen, schrieb ich in mein Tagebuch. Er lebt in solchen Tiefen, dass der Druck tödlich wäre.

Ich glaube nicht an Geister und frühere Leben und Zeitreisen und das ganze seltsame Zeug, mit dem sich Cal so gerne beschäftigt hat. Aber jedes Mal, wenn ich am Strand stehe, wünsche ich uns zurück – zu dem Tag mit dem Wal, zu dem Tag, als wir hierhergezogen sind, zu jedem beliebigen Tag, bevor er gestorben ist. Mit dem, was ich über die Zukunft weiß, wäre ich bereit. Ich würde ihn retten, wenn es so weit wäre.

Obwohl es schon so spät ist, sind bestimmt Leute von der Schule am Strand, deshalb gehe ich ein Stück weiter weg zu einer ruhigen Stelle. Ich setze mich in die Dünen, bedecke meine Beine bis zu den Hüften mit Sand und starre auf das Wasser. Es ist mit Mond übergossen, lauter silberne Flecken auf der Oberfläche.

Ich möchte reingehen und kann es nicht. Ich will am Strand sein und weit weg. Ich habe versucht zu schwimmen, ohne an den Tag zu denken, an dem Cal ertrunken ist, aber es geht nicht. Ich höre seine Worte. Ich höre seine Schritte im Sand. Ich sehe ihn eintauchen: ein langer, schmaler Bogen, der im Meer verschwindet.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin, als ich Mum über die Dünen kommen höre; ihre Füße rutschen auf dem Sand. Sie setzt sich neben mich und zündet sich eine Zigarette an, schirmt sie gegen die Nacht ab.

Nach Cals Tod hat sie wieder angefangen zu rauchen. Sie und Dad hatten sich nach der Beerdigung hinter der Kirche versteckt. Ich stellte mich schweigend zwischen sie, nahm ihre freien Hände und wünschte mir, Cal hätte den seltsamen Anblick unserer rauchenden Eltern sehen können. Dad arbeitet seit der Scheidung vor zehn Jahren bei Ärzte ohne Grenzen. Mum unterrichtet Naturwissenschaften an der Highschool hier in Sea Ridge. Beide haben unser Leben lang Zigaretten als „Sargnägel“ bezeichnet.

Wir schauen aufs Wasser. Mum geht auch nicht mehr rein, aber wir treffen uns jeden Abend am Flutsaum. Sie war diejenige, die Cal und mir das Schwimmen beigebracht hat: wie man das Wasser umfasst, wie man es zurückschiebt und seinen Fluss kontrolliert. Es war Mum, die uns gesagt hat, wir sollten keine Angst haben. „Aber schwimmt nie alleine“, sagte sie, und abgesehen von dem einen Mal haben wir das auch nie getan.

„Hast du alles gepackt?“, fragt sie, und ich nicke.

Morgen verlasse ich Sea Ridge und fahre nach Gracetown, einem Vorort von Melbourne, wo meine Tante Rose lebt. Ich bin bei der Abschlussprüfung durchgerasselt, und da ich nicht vorhabe, es nächstes Jahr noch mal zu versuchen, und nicht weiß, was ich hier mit mir anfangen soll, hat Rose mir einen Job im Café des St. Albert’s Hospital besorgt, wo sie als Ärztin arbeitet.

Cal und ich sind in Gracetown aufgewachsen. Wir sind vor drei Jahren nach Sea Ridge gezogen, als ich fünfzehn war. Gran brauchte Hilfe, und wir wollten nicht, dass sie das Haus verkauft. Wir haben seit unserer Geburt sämtliche Sommer- und Winterferien bei ihr verbracht, deshalb war Sea Ridge wie ein zweites Zuhause für uns.

„Der Highschool-Abschluss ist nicht alles“, sagt Mum.

Vielleicht nicht, aber vor Cals Tod hatte ich mein Leben bis ins kleinste Detail durchgeplant. Ich hatte Supernoten und war glücklich. Ich wollte Ichtyologin werden und Fische wie den Schnabelwal erforschen. Ich wollte Joel, Reisen, Uni, Freiheit.

„Es kommt mir so vor, als hätte das Universum Cal betrogen, und uns gleich mit“, sage ich.

Vor Cals Tod hätte Mum mir ruhig und sachlich erklärt, dass das Universum sämtliche existierende Materie und sämtlichen existierenden Raum umfasst, mit einem Durchmesser von zehn Milliarden Lichtjahren, Galaxien und Sonnensystemen, Sternen und Planeten. Und dass nichts davon in der Lage ist, jemanden zu betrügen.

Jetzt zündet sie sich eine neue Zigarette an. „Hat es auch“, sagt sie und bläst den Sternen Rauch ins Gesicht.