Graeme Macrae Burnet: Der Unfall auf der A35


Eigentlich gibt es nichts Außergewöhnliches an dem tödlichen Autounfall auf der A35 unweit des elsässischen Städtchens Saint-Louis. Doch eine Frage treibt Kommissar Gorski um: Wo war das Unfallopfer Bertrand Barthelme in der Nacht, in der er mit seinem Wagen frontal gegen einen Baum krachte? Als Barthelmes Spuren zu einer jungen Prostituierten in Straßburg führen, die just in jener Nacht erdrosselt wurde, ist der kauzige Provinzkommissar alarmiert. Schnell verstrickt sich Gorski in einem mysteriösen Rätsel um den Toten, das tief hinter die harmlose Fassade der verschlafen wirkenden Kleinstadt Saint-Louis blicken lässt. Und auch Barthelmes Sohn Raymond beginnt dem Geheimnis seines verstorbenen Vaters nachzuspüren, das die wohlgeordnete Welt des Siebzehnjährigen gehörig ins Wanken bringen wird ...

Kriminalroman

Europa (2018)

Originaltitel: The Accident on the A35

ISBN 978-3-95890-154-4

EUR 17,90




Leseprobe

An dem Unfall auf der A35 schien absolut nichts ungewöhnlich zu sein. Er geschah an einem vollkommen unspektakulären Streckenabschnitt zwischen Straßburg und Saint-Louis. Ein dunkelgrüner Mercedes Kombi, der in südlicher Richtung unterwegs war, kam von der Fahrbahn ab, schlitterte die Böschung hinunter und knallte gegen einen Baum am Rande eines Wäldchens. Gemeldet wurde der Unfall um 22.45 Uhr, aber da der Wagen von der Straße aus nicht sofort zu sehen war, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen, wann sich der Unfall ereignet hatte. Auf jeden Fall war der einzige Insasse bereits tot, als der Wagen gefunden wurde.

Georges Gorski von der Polizei in Saint-Louis stand auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen der Straße. Es war November. Nieselregen überzog die Fahrbahn. Es gab keine Reifenspuren. Die naheliegendste Erklärung war, dass der Fahrer einfach am Steuer eingenickt war. Selbst bei einem Herzinfarkt versuchte ein Fahrer meistens noch, auf die Bremse zu treten oder den Wagen irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Dennoch beschloss Gorski, erst einmal alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Sein Vorgänger Jules Ribéry hatte ihn stets ermahnt, auf seinen Instinkt zu hören. Fälle löst man hiermit, nicht damit, hatte er oft gesagt und dabei zuerst auf seinen Bauch und dann auf seinen Kopf gezeigt. Doch Gorski war skeptisch, was diese Herangehensweise betraf. Sie ermunterte den ermittelnden Beamten, Details außer Acht zu lassen, die nicht zu seiner Ausgangshypothese passten. Gorski hingegen zog es vor, jedem Detail erst einmal die gleiche Beachtung zu schenken. Ribérys Vorgehensweise war eher dem Wunsch entsprungen, es sich bereits nachmittags in einer der Bars von Saint-Louis gemütlich zu machen. Dennoch lag angesichts dessen, was Gorski nun vor sich sah, die Vermutung nahe, dass er nicht allzu lange nach alternativen Theorien suchen musste.

Als er an der Unfallstelle ankam, war diese bereits abgesperrt worden. Ein Fotograf machte Aufnahmen von dem zerbeulten Wagen. Immer wieder ließ der Blitz die umstehenden Bäume aufleuchten. Ein Rettungswagen und mehrere Streifenwagen mit Blaulicht blockierten die Fahrbahn Richtung Süden. Zwei gelangweilte Gendarmen regelten den spärlichen Verkehr.

Gorski trat seine Zigarette am Straßenrand aus und kletterte die Böschung hinunter. Das tat er nicht so sehr deshalb, weil er glaubte, die Begutachtung der Unfallstelle könne ihm irgendwelche neuen Erkenntnisse zum Unfallhergang liefern, sondern nur, weil es zu seinen Aufgaben gehörte. Diejenigen, die um das Fahrzeug herumstanden, warteten auf sein Urteil. Der Leichnam durfte nicht aus dem Wagen geholt werden, bis der ermittelnde Beamte die Erlaubnis dazu gab. Hätte sich der Unfall nur ein paar Kilometer weiter nördlich ereignet, wäre er unter die Zuständigkeit der Mülhausener Polizei gefallen. Während Gorski den Abhang hinunterbalancierte, war ihm bewusst, dass alle, die unten beim Wäldchen standen, zu ihm herübersahen. Das Gras war rutschig vom abendlichen Regen, und seine dünnen Lederslipper waren denkbar ungeeignet für so einen Einsatz. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste er in einen leichten Laufschritt verfallen, und unten stieß er mit einem jungen Gendarmen zusammen, der eine Taschenlampe hielt. Er hörte unterdrücktes Lachen.

Langsam umrundete Gorski das Auto. Der Fotograf unterbrach seine Arbeit und trat zurück, um ihm den Blick freizugeben. Der Fahrer des Wagens war beim Aufprall mit Kopf und Schultern durch die Windschutzscheibe geschleudert worden. Die Arme hingen neben dem Rumpf herab, was darauf hindeutete, dass er nicht versucht hatte sich zu schützen. Sein Kopf lag auf der zusammengedrückten Motorhaube. Der Mann hatte einen grauen Vollbart, aber davon abgesehen konnte Gorski kaum etwas von seinem Äußeren erkennen, da das Gesicht – oder zumindest der Teil, den man sehen konnte –, völlig zerschmettert war. Die Haare klebten nass auf den Überresten der Stirn. Gorski ging weiter um den Mercedes herum. Der Lack auf der Fahrerseite war stark zerkratzt, was vermuten ließ, dass der Wagen auf der Seite liegend die Böschung hinuntergerutscht war und sich erst unten wieder aufgerichtet hatte. Gorski blieb stehen und strich mit den Fingern über das verbeulte Metall, als hoffe er, dass es mit ihm sprechen würde. Doch das tat es nicht. Und als er nun sein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts nahm und ein paar Worte hineinschrieb, tat er es nur, um die Männer, die um ihn herumstanden und ihn beobachteten, zufrieden zu stellen. Die Kollegen von der Unfallermittlung würden zu gegebener Zeit die Unfallursache feststellen. Dazu war keine geniale Eingebung nötig, weder von Gorski noch von irgendjemandem sonst.

Die Beifahrertür hatte sich durch den Aufprall ein Stück geöffnet. Gorski zog sie ein wenig weiter auf und griff in die Innentasche des Mantels, der neben dem Verunglückten auf dem Sitz lag. Er bedeutete dem Einsatzleiter, dass er mit seiner Untersuchung fertig war, und kletterte die Böschung wieder hinauf. Als er in seinem Auto saß, zündete er sich eine neue Zigarette an und klappte die Brieftasche des Unfallopfers auf. Der Tote hieß Bertrand Barthelme, wohnhaft in der Rue des Bois 14, Saint-Louis.

 

Die Adresse gehörte zu einer der großen Villen am Nordrand der Stadt. Saint-Louis war eine unbedeutende Kleinstadt im so genannten Dreyeckland, wo Deutschland, Frankreich und die Schweiz aneinandergrenzten. Die rund zwanzigtausend Einwohner ließen sich in drei Gruppen unterteilen: diejenigen, die keinerlei Ehrgeiz hatten, an einem weniger tristen Ort zu leben; diejenigen, denen dazu die Mittel fehlten; und diejenigen, denen es dort aus unerfindlichen Gründen gefiel. Obwohl die Stadt nicht viel vorzuweisen hatte, gab es ein paar Familien, die auf die eine oder andere Weise zu Vermögen gekommen waren, zumindest für dortige Verhältnisse. Ihre Häuser standen nie zum Verkauf. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben wie in ärmeren Familien Eheringe oder Möbelstücke.

In der Rue des Bois angekommen, parkte Gorski am Straßenrand und zündete sich eine Zigarette an. Das Haus war hinter großen Platanen verborgen. Es war eine von jenen Straßen, in denen ein spätabends abgestellter, fremder Wagen umgehend einen Anruf bei der Polizei auslöste. Gorski hätte die unerquickliche Aufgabe, die Angehörigen zu informieren, ohne weiteres an einen seiner Untergebenen delegieren können, aber er wollte nicht den Eindruck erwecken, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Doch es gab noch einen zweiten, weniger ehrbaren Grund, den sich Gorski selbst kaum eingestehen mochte: Er war wegen der Adresse des Verstorbenen persönlich gekommen. Hätte der Tote aus einem weniger wohlhabenden Viertel der Stadt gestammt, hätte er kaum Bedenken gehabt, einen Beamten niederen Ranges zu schicken. Tatsächlich glaubte er, dass die Leute, die an der Rue des Bois wohnten, das Recht hatten, vom höchsten Gesetzesvertreter der Stadt informiert zu werden. Das erwarteten sie, und wenn Gorski dies nicht persönlich übernahm, würde später darüber getuschelt werden.

Kurz erwog er, die Aufgabe auf den nächsten Morgen zu verschieben – es war schon fast Mitternacht –, doch die späte Stunde bot keinen hinreichenden Vorwand. Schließlich hätte er keinerlei Bedenken, eine Familie in den schäbigen Mietshäusern am Place de la Gare zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit zu stören. Außerdem konnte es sein, dass die Familie Barthelme in der Zwischenzeit über eine andere Quelle von dem Unfall erfuhr.

Gorski ging knirschend die kiesbestreute Einfahrt hinauf. Wie immer, wenn er sich solchen Häusern näherte, kam er sich wie ein Eindringling vor. Falls ihn jemand fragte, was er hier wollte, würde er sich garantiert erst entschuldigen, bevor er den Ausweis hervorholte, der seine Anwesenheit rechtfertigte.

(...)

Gorski wollte gerade ein zweites Mal an der Tür in der Rue des Bois klingeln, als in der Eingangshalle das Licht anging und ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Eine stämmige Frau um die sechzig öffnete die Tür. Ihr graues Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden, und sie trug ein Kleid aus dunkelblauer Wolle, das ein wenig zu eng saß. Um ihren Hals hing eine Brille an einem Lederband und ein kleines Kreuz, das sich an ihren Brustansatz schmiegte. Sie hatte kräftige, geradezu männliche Knöchel und trug braune Schnürschuhe. Es sah nicht so aus, als hätte sie sich hastig angezogen, um an die Tür zu gehen. Vielleicht endeten ihre Pflichten erst, wenn der Herr des Hauses zurückgekehrt war. Gorski stellte sich vor, wie sie in ihrem Zimmer saß und bedächtig eine Patience legte, eine brennende Zigarette neben sich im Aschenbecher. Sie musterte Gorski mit jenem Ausdruck verhaltener Abscheu, den er seit Langem gewohnt war und von dem er sich nicht mehr irritieren ließ.

„Guten Abend, Madame“, begann er. „Kommissar Georges Gorski von der hiesigen Polizei.“ Er zeigte ihr seinen Ausweis, den er bereits in der Hand gehalten hatte.

„Madame Barthelme hat sich schon zur Nacht zurückgezogen“, erwiderte die Frau. „Bitte seien Sie so gut und kommen Sie zu einer passenderen Tageszeit wieder.“

Gorski widerstand dem Drang, sich für die Störung zu entschuldigen. „Das ist kein gesellschaftlicher Besuch“, sagte er.

Die Frau zog die Augenbrauen hoch und schüttelte leicht den Kopf. Dann setzte sie ihre Brille auf und bat um Gorskis Ausweis. „Was gibt es denn, dass Sie um diese Zeit unbescholtene Leute stören müssen?“

Schon jetzt war Gorski diese wichtigtuerische Person zutiefst unsympathisch. Anscheinend glaubte sie, ihr Status als Wächterin dieses Haushalts verleihe ihr besondere Autorität. Er rief sich ins Gedächtnis, dass sie nichts weiter war als eine Bedienstete.

„Offensichtlich etwas Wichtiges, sonst würde ich nicht um diese Zeit kommen“, entgegnete er. „Wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären …“

Die Haushälterin trat von der Haustür zurück und ließ ihn widerstrebend in die riesige holzvertäfelte Eingangshalle. Die Eichentüren der Zimmer im ersten Stock führten zu einem Treppenabsatz, der von einem geschnitzten Geländer eingefasst wurde. Sie ging die Treppe hinauf, wobei sie sich schwer auf den Handlauf stützte, und betrat ein Zimmer zur Linken. Gorski wartete in der dämmrigen Halle. Im Haus war es still. Unter einer geschlossenen Tür auf der rechten Seite des Treppenabsatzes schien ein schmaler Lichtstreifen hindurch. Wenig später kam die Haushälterin wieder herunter. Sie bewegte sich humpelnd und führte das rechte Bein im Bogen, als hätte sie Schmerzen in der Hüfte.

Mme Barthelme, teilte sie ihm mit, würde ihn in ihrem Zimmer empfangen. Gorski war davon ausgegangen, dass die Hausherrin ihn in einen der unteren Räume bitten würde. Die Vorstellung, eine Frau in ihrem Schlafzimmer über den Tod ihres Mannes zu unterrichten, erschien ihm ein wenig anstößig. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er folgte der Haushälterin nach oben. Sie wies auf die Tür und ließ ihn vorgehen.

Angesichts des Alters des Verstorbenen hatte Gorski erwartet, eine ältere Frau vorzufinden, die auf einen Haufen bestickter Kissen gestützt war. Laut seinem Führerschein war Barthelme neunundfünfzig gewesen, doch selbst bei der oberflächlichen Begutachtung, die Gorski vorgenommen hatte, war ihm der Mann älter vorgekommen. Sein Bart war dicht und grau und der Schnitt seines dreiteiligen Anzugs altmodisch. Mme Barthelme hingegen war sicher höchstens vierzig, vielleicht sogar jünger. Ihr üppiges hellbraunes Haar war nachlässig hochgesteckt, und ein paar einzelne Locken umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Sie hatte sich einen leichten Schal um die Schultern gelegt, wohl um den Anstand zu wahren, doch ihr Nachthemd war am Ausschnitt so locker zusammengebunden, dass Gorski sich Mühe geben musste, daran vorbeizuschauen. Das Zimmer gehörte eindeutig einer Frau. Es gab eine kunstvoll verzierte Frisierkommode und eine mit Kleidern übersäte Chaiselongue. Der Nachttisch war voll kleiner brauner Tablettenfläschchen. Nichts wies auf die Anwesenheit eines Mannes hin. Offensichtlich hatte das Paar getrennte Schlafzimmer. Mme Barthelme lächelte liebenswürdig und entschuldigte sich dafür, dass sie Gorski im Bett liegend empfing.

„Ich fühle mich leider ein bisschen …“ Sie beendete den Satz mit einer vagen Geste ihrer Hand, was ihre Brüste unter dem dünnen Stoff des Nachthemds in Bewegung versetzte.

Für einen Moment vergaß Gorski den Anlass seines Besuchs.

„Thérèse hat mir Ihren Namen nicht genannt“, sagte sie.

„Gorski“, erwiderte er. „Kommissar Gorski.“ Beinahe hätte er hinzugefügt, dass sein Vorname Georges war.

„Gibt es denn so viele Verbrechen in Saint-Louis, dass wir einen Kommissar brauchen?“

„Gerade genug.“ Normalerweise hätte sich Gorski über eine solche Bemerkung geärgert, aber so, wie Mme Barthelme es sagte, klang es wie ein Kompliment.

Er stand auf halbem Weg zwischen Tür und Bett. Vor der Frisierkommode war ein Stuhl, aber es schickte sich nicht, so eine ernste Nachricht im Sitzen zu überbringen. Die Haushälterin wartete an der Tür. Es gab keinen Grund, weshalb sie nicht dabei sein sollte, doch Gorski wollte seine Autorität bekräftigen, und so drehte er sich um und sagte: „Bitte lassen Sie uns einen Moment allein, Thérèse.“

Die Haushälterin gab sich keine Mühe, ihre Missbilligung zu verbergen, doch nachdem sie demonstrativ die Kissen auf der Chaiselongue zurechtgerückt hatte, verließ sie das Zimmer.

„Und schließen Sie die Tür hinter sich“, fügte Gorski hinzu.

Er schwieg einen Augenblick und setzte eine angemessen ernste Miene auf. „Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten, Madame Barthelme.“

„Bitte nennen Sie mich Lucette. Sonst komme ich mir vor wie eine alte Jungfer“, erwiderte sie. Der Rest seines Satzes schien keinen Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben.

Gorski nickte. „Es hat einen Unfall gegeben“, sagte er. Er sah keinen Sinn darin, um den heißen Brei herumzureden. „Ihr Mann ist tot.“

„Tot?“

Das sagten sie alle. Gorski maß den Reaktionen der Leute, wenn sie von so einer Nachricht erfuhren, keinen besonderen Wert bei. Würde bei ihm zu später Stunde ein Polizist vor der Tür stehen, wäre ihm klar, dass es sich nur um eine schlechte Nachricht handeln konnte. Doch dieser Gedanke schien Zivilisten nicht in den Sinn zu kommen, und im ersten Moment reagierten sie meist mit Unglauben.

„Sein Wagen ist von der A35 abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Er war sofort tot. Es ist ungefähr vor einer Stunde passiert.“

Mme Barthelme stieß einen matten Seufzer aus.

„Nach unserem ersten Eindruck deutet alles darauf hin, dass er am Steuer eingenickt ist. Aber es wird natürlich eine umfassende Untersuchung geben.“

Mme Barthelmes Gesichtsausdruck veränderte sich kaum. Sie wandte den Blick von Gorski ab. Ihre Augen waren blassblau, beinahe grau. Ihre Reaktion war nicht ungewöhnlich. Die Leute stießen in der Regel keine entsetzten Schreie aus, fielen nicht in Ohnmacht und bekamen auch keine Wutanfälle. Dennoch war es eigentümlich, dass sie so gar keine Regung zeigte. Ihr Blick wanderte zu den Tablettenfläschchen auf dem Nachttisch. Vielleicht hatte sie Valium oder irgendein anderes Beruhigungsmittel genommen. Gorski ließ ihr noch ein wenig Zeit. Dann zuckte sie ein wenig zusammen, als hätte sie vergessen, dass er da war.

„Ich verstehe“, sagte sie. Sie hob die Hand und strich sich geistesabwesend eine Locke aus dem Gesicht. Sie war wirklich bezaubernd.

„Möchten Sie ein Glas Wasser?“, fragte er. „Oder vielleicht einen Brandy?“

Sie lächelte, genauso wie in dem Moment, als er das Zimmer betreten hatte. Gorski begann sich zu fragen, ob sie seine Nachricht überhaupt verstanden hatte.

„Nein, danke. Sie sind sehr freundlich.“

Gorski deutete eine knappe Verneigung an. „Ist außer der Haushälterin sonst noch jemand hier?“

„Nur unser Sohn Raymond“, sagte sie. „Er ist in seinem Zimmer.“

„Möchten Sie, dass ich es ihm sage?“

Dieses Angebot schien Mme Barthelme zu überraschen. „Ja, das wäre sehr nett von Ihnen.“

Gorski nickte. Er hatte nicht damit gerechnet, die Nachricht zweimal überbringen zu müssen. In Gedanken war er bereits bei dem Bier gewesen, das er noch im Le Pot trinken wollte. Er widerstand dem Drang, auf die Uhr zu sehen, und hoffte, dass Yves noch nicht geschlossen hatte, wenn er dort ankam. Dann wies er noch darauf hin, dass der Leichnam offiziell identifiziert werden musste. „Wir schicken Ihnen morgen früh einen Wagen“, sagte er.

Mme Barthelme nickte. Sie erklärte ihm, wo das Zimmer ihres Sohns war. Und damit hatte es sich.

Die Haushälterin saß auf einer gepolsterten Bank neben der Tür. Gorski nahm an, dass sie alles gehört hatte.