Xinran: Sehnsucht groß wie meine Einsamkeit


Xinran macht China verständlich - dafür ist die in Beijing geborene Autorin berühmt. Die in England lebende Journalistin hat sich ihren neugierigen Blick bewahrt. Bei einem Aufenthalt in ihrer Heimat stieß sie auf die schier unglaubliche Geschichte einer sechzig Jahre verheirateten Jungfrau - und führte Interviews mit ihr und den Frauen ihrer Familie.

Diese weiblichen Schicksale stehen beispielhaft für ein ganzes Jahrhundert chinesischer Geschichte: Arrangierte Ehen, Macho-Macht und Fügsamkeit, Frauen beim Militär und Liebe in den Zeiten der Kulturrevolution und unter Mao werden ebenso geschildert wie das Liebesleben moderner Chinesinnen, die in einer eigenen Welt leben zwischen Online-Dating und Cyber-Sex, aber im Herzen eine unerfüllte Sehnsucht tragen.

Memoir

Knaur (2018)

Originaltitel: The Promise - Tales of Love and Loss in China

ISBN 978-3-426-21447-3

EUR 19,99

 

Übersetzung zusammen mit Elisabeth Liebl




Leseprobe

Mein richtiger Name ist Anhong, aber man hat mich immer Yaohong genannt – yaobedeutet schwanken wie das Boot auf dem Wasser, und hongbedeutet rot, wie die Farbe. Die meisten Leute nennen mich einfach Red. Als ich neun Jahre alt war, arrangierte mein Vater, dass ich den Sohn seines Freundes heiraten sollte, der damals dreizehn war. Sein Name war Fang Baogang. Die Leute sagten, er sei so etwas wie ein Wunderkind, denn er konnte die Klassiker auswendig aufsagen, sehr schöne Kalligraphie schreiben und aus dem Stand kleine Reimgedichte verfassen.

Die Familie Fang besaß ein florierendes Frachtunternehmen in Südchina; sie handelten hauptsächlich mit Waffen und Munition. Während der Wirren der Warlord-Ära, die 1911 begann, erwarben die Fangs ein kleines Vermögen, indem sie „Kriegsanleihen“ ausgaben. Nach der Invasion der Japaner, die sich die Schiffsflotte der Familie aneigneten, verkauften die Fangs alles, was sie noch besaßen, und zogen nach Beiping, wie die chinesische Hauptstadt von 1928 bis 1949 genannt wurde. Dort wurden sie zu einem der Hauptwaffenlieferanten für den Warlord Feng Yuxiang, der in Nordchina die Japaner zurückzudrängen versuchte, in den Folgejahren sogar als Vizepremier der Republik China. Später schickte die Familie drei ihrer Söhne zur Armee des Nationalisten Fu Zuoyi, der gegen die Kommunisten kämpfte (...).

Ende 1948 begann General Fu, heimlich mit der 4. Feldarmee der Volksbefreiungsarmee, damals noch Rote Armee genannt, zu verhandeln. Am 22. Januar 1949 einigte man sich, Beiping friedlich zu befreien, indem General Fu seine Truppen an den Außenrand der Stadt zurückzog und sie in das Heer der Kommunisten integrierte. Als die Volksbefreiungsarmee am 31. Januar 1949 offiziell in Beiping einmarschierte, nutzte Baogang die Gelegenheit und nahm Urlaub, um seine Familie zu besuchen. 

Die Fangs ließen sofort meinen Vater kommen. Es wurde beschlossen, dass wir zwei, deren Leben so viele Jahre von den Wirren des Krieges beherrscht worden war, nun endlich verheiratet werden sollten. Damals war ich schon achtundzwanzig. Nach den alten Traditionen, die meine Familie noch befolgte, hatte eine verlobte Frau „ihr Haar gebunden“- traditionell trug man es in besonderer Weise geflochten für die Zeit der Verlobung, gelöst wurde es erst in der Hochzeitsnacht - was bedeutete, dass sie keinem anderen Mann mehr versprochen werden konnte.

Da wir noch unter den Folgen des Kriegs litten, gaben sich unsere Eltern nicht viel Mühe mit der Hochzeit. Sie beachteten nicht einmal das alte Ritual der Drei Briefe und Sechs Bräuche. Was nicht heißen soll, dass es bei der Zeremonie gar keine traditionellen Elemente gab. Wir befolgten durchaus einige der Regeln, die unsere Ahnen an uns weitergegeben hatten, zum Beispiel:

 

Die Braut wird in einer Sänfte zum Haus des Bräutigams gebracht.

Am Eingang des Hauses wird die Braut in einer feierlichen Zeremonie begrüßt.

Braut und Bräutigam verneigen sich vor den Gräbern ihrer Ahnen.

Braut und Bräutigam erweisen den Ältesten beider Familien ihren Respekt.

Es wird auf die Gesundheit beider Familien angestoßen.

Nach der Hochzeit besucht das Paar die neuen Schwiegereltern.

Erdnüsse, Datteln und andere Nahrungsmittel, die wegen gleicher Lautung im Chinesischen als glückbringend gelten, werden unter die Matratze des Ehebetts gelegt. Sie symbolisieren Glück und die Hoffnung, dass die Braut bald zao sheng guizi– einen Sohn gebärt.

 

Wir hatten nur wenige Freunde, und fast alle aus unseren Familien waren bereits ausgewandert. Von den übrigen waren die meisten Bedienstete, die es niemals gewagt hätten, uns Ärger zu machen, und ich vermute, das war der Grund, weshalb uns die berüchtigten nao dong fangerspart blieben – allerlei üble Streiche, die Frischverheirateten sonst gerne gespielt werden.

Baogang betrat in unserer Hochzeitsnacht nicht einmal das Schlafzimmer. Er entschuldigte sich damit, dass er zu viel Wein getrunken habe und noch arbeiten müsse. Am nächsten Tag sollten wir in die Wohnung ziehen, die die Armee uns zugeteilt hatte und die in einer der Kasernen lag, direkt gegenüber dem Eingangstor. Gleichzeitig packten auch unsere Väter die Koffer, da sie in Hongkong ein neues Familienunternehmen aufbauen wollten.

Zu der Zeit war die politische Lage ein einziges Durcheinander – überall kursierten Gerüchte, und alle hatten Angst. Laut meinem Vater wagten es nur sehr wenige von den Kaufleuten, die die Nationalisten unterstützt hatten, im von den Kommunisten beherrschten Norden zu bleiben. Wer Glück hatte, schaffte es, seine Familie nach Hongkong oder an andere Orte im Süden zu bringen, der noch immer in der Hand der Nationalisten war; wer weniger Glück hatte, versuchte alles, um das Land zu verlassen. Die Leute fürchteten, dass die Kommunisten ihnen alles wegnehmen würden, was sie besaßen, um es an die Armen zu verteilen.

Und natürlich kann man wegen einer Hochzeit, auch wenn es ein wichtiger Anlass ist, nicht seine Flucht verschieben! Außerdem ist es das Schicksal einer Tochter, den Entscheidungen ihrer Familienältesten zu folgen. Ich bin nur froh, dass meine Mutter damals schon verstorben war und sich nicht mehr um ihre Kinder sorgen musste.

(...)

Am zweiten Tag unserer Ehe, als wir in die Kaserne zogen, stellte Baogang zwei Burschen ab, um mir beim Auspacken zu helfen. Alle waren sehr nett zu uns; sie hatten sogar unsere neue Wohnung festlich geschmückt. Die Einrichtung war sehr einfach – ein Bett mit Kissen und Decke, eine Art Kleiderregal und ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen – aber alles war nagelneu.

Baogang sagte, wir bräuchten nicht viele Möbel, weil ein Soldat immer unterwegs war, und eine Küche bräuchten wir ebenfalls nicht, weil die Kantine gleich um die Ecke lag.

Ich weiß noch, dass ich sehr neugierig auf meine neue Umgebung war. Alles fühlte sich so anders an. Ich war in einem Wohngehöft, einem Vierseitenhaus aufgewachsen, das von hohen Mauern umgeben war und wo die nackte Realität der Außenwelt mir ebenso unwirklich erschien wie die Fantasiewelten in meinen Büchern. Nicht einen Gedanken hatte ich daran verschwendet, wo und wie ich mit diesem Mann leben würde. Zeiten des Krieges sind wie große Irrgärten – man findet einfach keinen Weg, auf dem man das Gefühl hat, selbst Herr über sein Schicksal zu sein.

Baogang verbrachte den Tag mit Arbeit im Büro nebenan. Abends ging er mit mir in die Kantine. Das Essen dort schmeckte nicht so gut wie Selbstgekochtes, aber zwischen all diesen jungen Soldaten zu sitzen, deren Augen leuchteten und die voller Energie und Optimismus in die Zukunft schauten, war so ... erhebend! Nur schade, dass keiner von ihnen kam, um mit mir ein Wort zu wechseln.

Nach dem Essen verschwand Baogang direkt wieder in seinem Büro, was ich als Zeichen interpretierte, dass er mir Zeit geben wollte, mich zu waschen und für die Nacht vorzubereiten. 

Nachdem ich mich frischgemacht hatte, zündete ich zwei besondere rote Kerzen an und stellte sie ans Kopfende des Bettes. Ich hatte sie in der Schmuckschatulle gefunden, die meine Mutter mir hinterlassen hatte; in beide war mein Rufname Yaohong eingeritzt. 

Die Schatulle selbst war aus Elfenbein, und in den Deckel waren zwei Wildgänse eingraviert, die Seite an Seite flogen, das Symbol für ewige Liebe. Im Innern fand ich außer einigen wenigen Schmuckstücken ein kleines Fläschen, das mit den traditionellen baizitu-Bildern von den hundert Söhnen bemalt war und in dem sich eine Art Opiumpulver befand. Außerdem war noch eine Seite mit handgemalten Zeichnungen darin, wie man sie im Kama Sutra findet, und ein rosafarbenes Seidentaschentuch, bestickt mit einem kleinen Gedicht aus rotgoldendem Seidenfaden:

 

Ihrer Natur folgend, fliegen sie gen Süden,

weichen niemals von der Seite ihres Liebsten.

Das Yin zu seinem Yang, treu bis ans Ende.

 

Im scheuen Flackern der Kerzen rief mein Herz meiner Mutter im Himmel zu: „Ja, deine Tochter ist endlich eine Ehefrau!“ Ich zog mich langsam aus und legte mich auf das Bett. Rauch stieg von den beiden Kerzen auf und warf Schatten an die Decke, die mir wie ein endloser Strom erotischer Bilder erschienen, Männer und Frauen in leidenschaftlicher Umarmung.

Meine Gedanken rasten, meine Wangen glühten, und mein Körper schien vor Erregung zu zittern, als Baogang leise das Zimmer betrat. Ich schloss die Augen und lauschte, während er zum Fenster ging. Ich konnte sogar seinen schweren Atem spüren! Die Gestalten an der Decke, die ich auch mit geschlossenen Augen immer noch sah, wanden sich ein letztes Mal, dann verloschen sie, als Baogang die Kerzen ausblies.

In der lautlosen Dunkelheit schlug mein Herz wie wild, während ich darauf wartete, „zur Frau zu werden“.

Ich wartete ziemlich lange. So lange, dass ich träumend in eine andere Welt entglitt, wo Engelsstimmen in meinen Ohren klangen und wunderschöne Gedichte sprachen.

(...)

Plötzlich brachte mich ein dumpfer Knall zurück ins Hier und Jetzt. Im kalten, einsamen Mondlicht sah ich eine Gestalt neben dem Bett knien, den Umriss des Mannes, den ich gerade geheiratet hatte.

„Bao... Baogang, bist du das? Was ist los?“, stammelte ich und richtete mich auf. Ich verstand nicht, was da geschah - ich hatte noch nie von einem Mann gehört, der vor einer Frau kniete.

„Anhong ... Nein, warte ... Du möchtest, dass ich dich Red nenne, stimmt’s? Red, es ... es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. In meinem Leben gibt es zwei Verlobungen. Ja, zwei.“

Ich setzte mich auf, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte, meine Lippen und Finger taub.

„Die erste ist die, die meine Eltern für mich arrangiert haben, als ich noch ein Kind war. Die zweite ist die mit der Frau, in die ich mich verliebt habe, der Frau meines Herzens. Aber ich ... ich kann keine von beiden aufgeben. Ich kann mich weder gegen den Willen meiner Eltern stellen, noch kann ich mich von der Frau abwenden, die ich liebe. Ich ...“

Baogang konnte kaum sprechen. Sein Körper war so weit vorgebeugt, dass sein Kopf fast die Erde berührte und sein Gesicht nicht zu sehen war.

Es war, als hätte mich ein Blitz getroffen und mich in tausend winzige Stücke zerschmettert. Zwei Verlobungen? „Die Frau, in die du dich verliebt hast, die Frau deines Herzens? Und das ... das bin nicht ich?“

Oh, ich war so verwirrt! Mir wurde eiskalt, ein Gefühl, an das ich mich bis heute erinnere – mein Blut war wie erstarrt, ich konnte kaum atmen, und es fühlte sich an, als würde ich in einen tiefen Abgrund stürzen.

Ich lag schweigend da, zu fassungslos, um irgendwie zu reagieren, und Baogang kniete weiter neben mir.

Drei Nächte hintereinander ging das so – drei Nächte! Tagsüber ging er ganz normal arbeiten, und wenn er nach Hause kam, kniete er im Dunkeln neben meinem Bett. Wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Mir war, als hätte ich nichts mehr, wofür ich leben konnte.

Im Mondschein sah ich ihn da knien, die Stirn so tief, dass er fast auf dem Boden lag. Dennoch konnte ich die Stärke seines Willens spüren, und ich wusste, dass er auf meine Vergebung wartete.

Doch wie konnte ich ihm vergeben? Diese Ehe war von unseren Eltern für uns arrangiert worden, und wir konnten uns ihrem Willen nicht widersetzen, erst recht nicht, solange sie noch lebten. Davon abgesehen war das ganze Land im Aufruhr, es stand buchstäblich auf dem Kopf, und gegen eines der neuen Gesetze zu verstoßen, war lebensgefährlich. Ich war vollkommen ratlos, was ich tun sollte.