Marisha Pessl: Niemalswelt


Seit Jims ungeklärtem Tod hat Bee keinen von ihren Freunden mehr gesprochen. Als sich die fünf ein Jahr später in einem noblen Wochenendhaus an der Küste wiedertreffen, entgehen sie nachts nur knapp einem Autounfall. Unter Schock und vom Regen durchnässt kehren sie ins Haus zurück. Doch dann klopft ein geheimnisvoller Unbekannter an die Tür und eröffnet ihnen das Unfassbare: Der Unfall ist doch passiert und es gibt nur einen Überlebenden. Die Freunde sind in einer Zeitschleife zwischen Tod und Leben gefangen, in der sie dieselben elf Stunden immer wieder durchlaufen - bis sie sich geeinigt haben, wer von ihnen überlebt.

Der Schlüssel zur Entscheidung scheint Jims Tod zu sein - in ihrer Verzweiflung beginnen die Freunde nachzuforschen, was wirklich mit ihm passiert ist, in jener Nacht, in der er in den Steinbruch stürzte. Und langsam wird klar, dass sie alle etwas zu verbergen haben ...

Jugendbuch

Carlsen (2019)

Originaltitel: Neverworld Wake

ISBN 978-3-551-58400-7

EUR 18,00




Leseprobe

Damals in Darrow waren sie meine Familie gewesen. Sie waren die ersten richtigen Freunde, die ich je gehabt hatte, eine Handvoll Leute, die so lebendig und loyal waren, dass ich über mein Glück staunte wie ein Kind, das in eine große Dynastie hineingeboren worden war. Wir waren eine Clique, ein Geheimclub, um den uns alle anderen Schüler in Darrow beneideten, obwohl wir davon kaum etwas mitbekamen. Echte Freundschaft macht einen blind für die Außenwelt. Sie ist wie ein privilegiertes Land mit geschlossener Grenze, unfairer Vergabe von Greencards und einer reichen Kultur, die kein Fremder versteht. Von ihnen abgeschnitten, durch meine eigene Entscheidung für ein Jahr in Verbannung, fühlte ich mich entwurzelt und schäbig, reduziert auf ein ruheloses Dasein aus Koffern, möblierten Zimmern und Straßen, die ich nicht kannte.

Jims Tod war wie ein Erdbeben gewesen, das ganze Städte verschlang. Obwohl ich das vergangene Jahr in der Gewissheit verbracht hatte, dass meine Freunde mehr darüber wussten, als sie mir sagten, war mir auch klar gewesen, dass die Wahrheit mit jedem Tag, der verging, weiter in die Ferne rückte. Ich hatte Whitleys Postings auf Snapchat verfolgt und ab und zu hatte ich die vier dort zusammen gesehen. Sie wirkten so fröhlich und unbeschwert.

Als wäre nichts passiert.

Doch jetzt sah ich, dass sich die Dynamik zwischen ihnen verändert hatte.

Kip trommelte immer wieder mit seiner verkrüppelten Hand auf dem Tisch herum. Whitley sah dauernd auf ihr Handy. Martha schien ungewöhnlich schlechte Laune zu haben und kippte einen Schnaps nach dem anderen hinunter, ein Zeug namens »Der Untergang der General Grant«, das schmeckte wie Rohöl. Einmal ertappte ich sie dabei, wie sie mich mit leicht vorwurfsvoller Miene ansah. Ich lächelte ihr zu, doch sie wandte sich ab wie eine von diesen Urwaldpflanzen, die sich bei der geringsten Berührung zusammenziehen, und blickte danach stur in eine andere Richtung. Einmal, als Cannon sich zu Whitley beugte, um ihr etwas zu sagen, strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und ich fragte mich, ob die beiden wieder zusammen waren. Doch es schien mehr Gewohnheit zu sein.

Als die Vorgruppe fertig war, wollte ich nur noch weg. Ich wollte mir ein Taxi nach Wincroft nehmen, in den Pickup von meinem Dad steigen, verschwinden und nie wieder zurückblicken. Was hatte ich denn erwartet – dass die Wahrheit einfach da sein würde, unübersehbar wie ein riesiges Unkraut zwischen Tulpen, das nur darauf wartete, dass ich es ausriss?

Doch ich blieb. Ich hörte mir die nächste Band an und die danach. Ich trank die Moscow Mules, die Whitley mir hinstellte. Ich ließ mich von Kipling vom Stuhl ziehen und tanzte Charleston und Foxtrott mit ihm, ließ mich von ihm unter den tanzenden Papierlampions und den Postern von gesunkenen Schiffen gegen die Surfertypen, Elitestudenten und Biker wirbeln.

Nur noch ein bisschen, dachte ich, dann frage ich sie nach Jim.

Als die nächste Band zu Ende gespielt hatte, wollte Whitley zurück nach Wincroft, aber Cannon war verschwunden. Wie sich herausstellte, war er draußen hinter der Kneipe und half einem Mädchen, das zu viel getrunken hatte und vorm Notausgang umgekippt war.

»Unser edler Retter«, sagte Whitley.

Ans Geländer gelehnt sahen wir zu, wie Cannon mit der Effizienz eines Lobbyisten in Washington Freundinnen, Handtasche, Sandaletten und iPhone des Mädchens auftrieb. Er fand sogar ihre Haarspange und klipste ihr damit sanft die Haare aus dem Gesicht, damit sie nicht weiter daraufkotzte. Ihre Freundinnen, die genauso betrunken waren, starrten ihn staunend an.

»Bist du echt?«

»Hast du ’ne Freundin?«

»Wer bist du?«

Cannon strich sich durchs Haar. »Ich bin Batman.«

»Nicht schon wieder«, seufzte Whitley.

Cannon sah nicht gut aus. Er war schmächtig, mit straßenköterblonden Haaren und blassen, verwaschenen Gesichtszügen. Aber er hatte eine atomare Intensität, die jedes Mal Furcht und Schrecken verbreitete, wenn er sie auf die Welt losließ. Schnell wie ein stark aufgeladenes Ion und zielsicher wie ein Maschinengewehr hatte Cannon gleich in seiner ersten Woche Darrows Intranet gehackt, um dessen Sicherheitslücken aufzuzeigen (woraufhin er de factozum Technikguru der Schule wurde). Er gestaltete den halb vergammelten Skulpturengarten und die Ringkampfhalle neu. Er war Klassensprecher und organisierte Demos, Marathons und Spendensammlungen für gefährdete Arten und Mädchenrechte. Cannon gab selbst zu, dass seine offene, gesellige Art und sein Aktivismus ein Ausgleich dafür waren, dass er früher ein pathologisch schüchterner Computerfreak gewesen war; er hatte Spielberg-Filme, Ray Kurzweil und Achtziger-Jahre-Pop von The Cure geliebt und keine Freunde gehabt außer einer imaginären Fliege namens Pete, die in seinem Computer lebte. Er war adoptiert, aufgezogen von einer alleinstehenden Mutter, die Richterin am Superior Court in Kalifornien war. Wenn man ihn mit Whitley zusammen sah – die jeden von Darrows Country-Club-Jungs hätte haben können, mit Stammbaum und zweitem Vornamen wie Chesterton –, dachte man zuerst, die Prinzessin hätte sich versehentlich mit dem Knecht eingelassen, aber wenn man Cannon besser kennenlernte, erkannte man, dass die Rolle des Prinzen für ihn viel zu trivial war. Er war der König – oder zumindest wollte er es sein. Er war auf eine stille Weise der ehrgeizigste Mensch, der mir je begegnet war.

»Gibt’s sonst noch ein hilfloses Wesen in Not, das du retten musst?«, fragte Whitley, als Cannon zu uns zurückkam, nachdem er das Mädchen und ihre schwankenden Freundinnen in ein Taxi verfrachtet hatte.

Er breitete in ironischer Siegespose die Arme aus. »Der Barkeeper sieht aus, als würde er eine Erkältung kriegen. Aber nein. Meine Arbeit hier ist beendet.«

»Dem Himmel sei Dank, ich brauch nämlich meinen Schönheitsschlaf«, sagte Kip und gähnte.

Wir quetschten uns wieder in den Jaguar.

Dummerweise wollte das Verdeck nicht wieder hochgehen, obwohl Whitley zigmal auf die Knöpfe drückte. Es ließ sich auch nicht von Hand hochklappen.

Cannon erbot sich zu fahren, aber Whitley blieb stur. Es fing an zu schütten, und zwar so, dass mehr Regen in der Luft war als Luft. Die halbstündige Rückfahrt war eine Qual. Betrunken und frierend drückten wir uns auf dem Rücksitz aneinander. Irgendwann kotzte Martha auf ihre Füße, während wir zitternd unter EZS Burts gruseligem Trenchcoat kauerten, den Whitley im Kofferraum gefunden hatte. Von vorne rief Whitley, dass sie kaum noch was sehen könne. Als wir um die nächste Kurve rasten, stießen wir fast mit einem Abschleppwagen zusammen.

Der Fahrer hupte. Whitley riss das Steuer herum, die Reifen quietschten, und wir schrien alle auf, als der Wagen von der Straße abkam und holpernd im Graben landete. Kip schlug mit dem Kopf gegen den Sitz. Whitley stellte den Motor aus, fing an zu schluchzen und schrie Cannon an, das sei alles seine Schuld – bloß weil er mal wieder ein paar Mädchen beeindrucken musste, um sein mangelndes Selbstbewusstsein aufzupolieren, wären wir um ein Haar gestorben. Sie riss ihm die Baseballkappe vom Kopf und schleuderte sie in die Dunkelheit. Dann kletterte sie aus dem Auto, rief, sie würde schon alleine nach Hause kommen, und rannte in den Wald. Ich spürte, dass ihre Wut mit dem Regen und dem knapp vermiedenen Zusammenstoß zusammenhing, aber auch mit mir, weil ich einfach ohne Vorwarnung aufgetaucht war.

Cannon lief hinter ihr her. Ein paar Minuten später kam er mit ihr zurück. Sie weinte und hatte sein Hoodie an. Er manövrierte sie vorsichtig wie einen wilden Vogel mit gebrochenem Flügel auf den Beifahrersitz und flüsterte: »Alles wird gut, Shrieks.«

Es war dann Cannon, der uns nach Hause brachte.

 

Als wir fünf klatschnass und betrunken ins Haus taumelten, fühlte sich das Ganze zum ersten Mal normal an. Es war wie früher. Dem Himmel sei Dank für das kaputte Verdeck. Unsere Begegnung mit dem Tod brachte das Eis zum Schmelzen. Übermütig und zähneklappernd rissen wir uns die nassen Sachen vom Leib und warfen sie in einem Haufen auf den Boden, den Gandalf winselnd umkreiste. Whitley verschwand nach oben. Martha kroch auf allen Vieren zum Kamin und stöhnte: »Ich spüre meine Beine nicht mehr.« Cannon ging hinunter in den Weinkeller und kam mit vier Flaschen Chivas Regal Royal Salute zurück. Er goss jedem von uns einen kräftigen Schluck in ein rosa Champagnerglas. Whitley kam zurück und warf einen Riesenhaufen weiße Bademäntel auf das Sofa wie einen Armvoll Leichen.

»Ich hab noch nie so eine Angst gehabt«, sagte sie kichernd.

Da klingelte es an der Tür.

Wir richteten uns alle auf und sahen uns verwundert an. Zählten im Stillen. Wir waren komplett.

»Hat jemand die Geisterjäger gerufen?«, nuschelte Martha.

»Ich gehe«, sagte Cannon. Er salutierte schwankend und ging hinaus in die Eingangshalle. Wir schwiegen und lauschten, doch das einzige Geräusch war das Trommeln des Regens auf dem Dach.

Kurz darauf kam er zurück.

»Es ist irgend so ein alter Knacker. Mindestens hundert Jahre alt.«

»Das ist Alastair Totters«, sagte Martha.

»Wer?«, fragte Cannon.

»Der fiese Zeitreisende aus Das dunkle Haus«, murmelte Martha.

»Nein, nein«, flüsterte Kip grinsend. »Das ist der sprichwörtliche Tattergreis mit Alzheimer, der aus seinem Altersheim abgehauen ist. Ohne seine Medikamente. Die verschwinden immer ohne ihre Medikamente.«

»Soll ich ihn auf einen Absacker hereinbitten?«, fragte Cannon mit schelmischem Zwinkern.

»Nein«, zischte Whitley. »So fangen Horrorfilme an.«

»Drittes Kapitel«, murmelte Martha.

»He«, sagte Cannon und zeigte mit dem Finger auf Wit. »Das ist aber nicht sehr nett. Ichbitte ihn jetzt herein –«

»NEIN!«

Dann liefen wir alle stolpernd und kichernd in die Halle, um uns den Typen selbst anzusehen. Wir drängten uns vor dem Guckloch, sodass wir mit den Köpfen zusammenstießen. Irgendwie war ich überzeugt, dass Cannon uns hochnahm, dass da draußen gar keiner war.

Doch da war jemand. Ein alter Mann.

Er war groß, mit dichtem, schlohweißem Haar. Sein Gesicht konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte. Er beugte sich lächelnd vor, als könnte er mich durch das Guckloch sehen.

Cannon öffnete die Tür mit einer Verbeugung.

»Guten Abend, Sir. Können wir Ihnen behilflich sein?«

Der Mann antwortete nicht sofort. Etwas an der Art, wie er uns der Reihe nach musterte, brachte mich auf den Gedanken, dass er uns von irgendwoher kannte.

»Guten Abend«, sagte er. Seine Stimme klang überraschend angenehm. »Gestattet ihr, dass ich eintrete?«

Keiner von uns antwortete, weil die Frage so anmaßend und merkwürdig war. Auf mich wirkte er nicht senil. Der Blick seiner tiefgrünen Augen, die im Schein der Außenlampe funkelten, war klar und wach.

»Ach, Sie sind bestimmt der Nachbar«, sagte Whitley und trat neben Cannon. »Wenn es um Burts Segelboot geht, die Andiamo, die vor Ihrem Anleger liegt, soll ich Ihnen sagen, dass er Probleme mit dem Anker hatte und sich nächste Woche darum kümmert, dass sie abgeschleppt wird.«

»Ich bin kein Nachbar.«

Wieder musterte er uns, diesmal abwartend.

»Es wäre wirklich am besten, wenn ich hereinkäme, um es euch zu erklären.«

»Sagen Sie uns hier, was Sie wollen«, erwiderte Cannon.

Der Mann nickte. Er wirkte nicht überrascht. Da fielen mir zwei bizarre Dinge auf.

Erstens: Er sah aus wie Mr Joshua, der Musikleiter von Darrow. Einen Moment lang glaubte mein betrunkener Verstand, es wäreMr Joshua, und ihm wäre in dem Jahr, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, etwas Schreckliches zugestoßen. Vielleicht hatte er eine Tragödie durchgemacht und war um fünfundzwanzig Jahre gealtert, das Haar ergraut, die Haut voller Falten. Doch es war nicht Mr Joshua. Mr Joshua war schmächtig und rosig und immer zum Lachen aufgelegt. Dieser Mann war knochig, mit einem Raubvogelgesicht, das sich gut auf einer ausländischen Münze oder einem Denkmal gemacht hätte. Es war eher so, als wäre er der Zwillingsbruder von Mr Joshua, als wären die beiden nach der Geburt getrennt worden und hätten vollkommen unterschiedliche Leben geführt – Mr Joshua ein fröhliches und dieser Mann ein leiderfülltes, das tiefe Spuren hinterlassen hatte.

Zweitens: Er hatte keinen Schirm bei sich und es stand kein fremdes Auto in der Einfahrt. Wie war er dann hierher gekommen, ohne auch nur einen Tropfen abzukriegen? Die Frage hing beunruhigend in der Luft wie ein diffuser Gasgeruch.

»Ihr seid alle tot«, sagte er.