Alice Nelson: Das Kinderhaus


Marina Hirsch, Professorin in New York, ist entsetzt, als sie den kleinen Jungen auf dem Bürgersteig sitzen sieht. Sie bringt ihn zurück zu seiner Mutter, die achtlos weitergegangen ist. Dei junge Flüchlingsfrau kann ihren Sohn nicht an sich heranlassen, zu schlimm sind die Erinnerungen an die Vergangenheit. Marina kümmert sich um den kleinen Gabriel. Mit einer bedingungslosen Liebe, als wäre er ihr eigener Sohn. Kann man fremde Kinder so lieben? Kann sie an Gabriel gutmachen, was sie als Kind schmerzlich vermisst hat? Als ihre Mutter stirbt und ihr ein Sommerhaus hinterlässt, von dessen Existenz Marina nicht einmal wusste, beginnt sie einige lose Enden ihrer Familiengeschichte zusammenzufügen.

Roman

List (2019)

Originaltitel: The Children's House

ISBN 978-3-471-35181-9

EUR 18,00




Leseprobe

Truro, Cape Cod

Dezember 1997

 

Weide meine Lämmer, hat Jesus gesagt. Sie murmelt es vor sich hin, während sie das Fläschchen an den Mund des Kindes hält, versucht, den singenden Tonfall eines Pastors von vor langer Zeit nachzuahmen. Mein Lamm. Der Wind an der Scheibe packt den Klang ihrer Stimme und reißt ihn fort wie einen Fetzen Stoff. Winter am Himmel, die Kälte wie ein winziger Stich in ihre Knochen. Draußen die fremden Bäume, die ihre Blätter abgeworfen haben. Über der Marsch steigt ein Vogelschwarm in die Luft, ein dunkler Pfeil, der den Weg zeigt.

DasKind siehtsie an, als sie den Flaschenboden höher hält. Wachsam, beobachtend, dann allmählich müder, während esrhythmisch an dem weichen Plastik saugt. Man hat ihr gesagt, dass er zu alt für Milch ist, dass sie das Fläschchen weglassen soll.

Diese weichen Lippen. Kein einziges Mal an ihrer Brust seit jenem ersten Tag, als ein Paar Hände ihn blutig und nach Luft ringend auf sie gelegt und seinen weit geöffneten Mund an die richtige Stelle geführt hat. Da hat sie geschrien, wie sie es seither nie wieder getan hat. Da war keine Nahrung für ihn. Kaum zu glauben, dass sie es geschafft hat, ihn so lange in sich zu behalten. Die Stöße und Tritte gegen ihre Rippen zu ertragen, während sie wach auf der schmalen Liege im Flüchtlingslager von Gisenyi lag. Wie ein fremdes Wesen hat er sich angefühlt, ein glitschiger Seefisch, der ihren Körper anschwellen ließ.

Sie setzt sich einen Moment neben das Kind. Die Marsch füllt das Fenster hinter ihr aus. Das alte Glas verzerrt die sumpfigen Felder. Dieses Haus ist auf Schwemmland gebaut. Truro, Cape Cod. Selbst der Name dieses Ortes klingt fremd für sie. Weit weg von Ruanda, obwohl es auch dort Marschen gibt. Und Vögel, mit ihrem Lobgesang bei Tagesanbruch. Bald wird es hell genug sein, um das Haus zu verlassen. Sie hat bereits ihren Mantel an, ist umschlossen von seinem dicken Polster. Die Tasche mit ihren Sachenliegt unter dem Bett. Es ist der erste Weihnachtstag, noch früh am Morgen.

Das Kind will die Augen nicht schließen. Er kämpft immer gegen den Schlaf an, und sie weiß nicht, wie sie ihn zum Nachgeben bringen kann. Sie kennt kein Lied, keine geflüsterten Worte. Seine Hand liegt zur Faust geballt an der Wange wie eine kleine Muschel. Gabriel heißt er. Es ist kein Name aus ihrem Land. Ein kongolesischer Pastor im Lager hat ihn ausgesucht. Sie hatte einen anderen Namen auf der Zunge, aber der Pastor meinte, das Kind brauche den Namen eines Engels. Und es sei ein guter Name für einen Jungen, der in Amerika aufwachsen würde. Deshalb sagte sie nichts und ließ ihn einen Namen auswählen. Der Nachname war auch falsch. Die Leute, die die Papiere für Amerika ausgefüllt hatten, wussten nicht, dass in Ruanda jedes Kind seinen eigenen Nachnamen hat. Einen Namen aus ihrer Sprache mit einer besonderen Bedeutung, der extra ausgewählt wird und den niemand sonst in der Familie hat. Auf die Papiere für das Baby haben sie ihren Nachnamen geschrieben, den, den ihre Mutter ihr gegeben hatte: Nsengimana. Das bedeutet „ich bete zu Gott“. Sie war ein erhörtes Gebet, ein Kind des Glaubens, das erste, das nach zwei Totgeburten überlebt hatte. Sie war überzeugt gewesen, dass ihr Baby auch tot geboren werden oder eine Missgeburt sein würde.

Dass sie einen falschen Namen für das Kind eingetragen haben,ist ihr erst aufgefallen, als sie in Amerika waren und sie die Plastikkarten sah, die man ihr gegeben hatte – eine, um in den Läden Essen zu kaufen, und eine, die man dem Arzt in der Klinik zeigen musste. Da war es zu spät, um noch etwas zu ändern. So war es einfacher, hatten sie ihr gesagt. Es war besser, wenn sie beide den gleichen Namen hatten. So war es in diesem Land üblich. Familien wurden durch den gleichen Namen zusammengehalten.

Endlich schläft das Kind, sein Kopf drückt eine leichte Kuhle in das Kissen. In der Stadt, bevor sie Marina begegnet waren, hatte der kleine Junge geschrien und geschrien. Sie wusste nicht, woher er die Energie nahm, so viel zu schreien. Wenn sie in das andere Zimmer ging und die Tür zumachte, wurde aus dem Schreien irgendwann ein leises Wimmern. Manchmal schrie er sich auch in den Schlaf, und dann fand sie ihn zusammengerollt unter dem Tisch, die Wange auf dem Fußboden. Wenn es kalt war, breitete sie ihren Wintermantel über ihn, und am nächsten Morgen lag er darin wie ein kleiner Vogel in seinem Nest und starrte zu ihr hoch, während sie in der Küche umherging. Als hätte er Angst vor ihr.

 

Manchmal, wenn sie ihn schlafen sieht, ist sie immer noch überrascht, dass er aus ihr entstanden ist. Dass es ihn wirklich gibt. Jedes Mal wenn sie in der Stadt mit ihm zur Klinik gegangen ist, wo sie ihn untersucht und angefasst und gemessen oder ihm Medikamente oder Spritzen gegeben haben, hatte sie den Gedanken im Kopf, dass sie ihn ihr nicht zurückgeben würden. Dass sie sagen würden, es reichte jetzt;wissen würden, dass man ihr das Kind nicht anvertrauen durfte. Aber das taten sie nicht. Sie gaben ihr nur ein Medikament oder ein buntes Bonbon für ihn, und das war’s. Ein Lächeln, die Tür wurde geöffnet und jemand anders ging hinein, während sie ihn sich im Wartezimmer auf den Rücken band und das Tuch über den Brüsten zusammenknotete. Das immerhin wusste sie noch: Wie man den Stoff band und knotete. Wie man ein Kind trug.

Sie stellt das leere Fläschchen auf den Nachttisch und steckt die Decke um sein Kinn fest. Immer beobachtet es sie, dieses Kind, folgt ihr von Zimmer zu Zimmer, seit es sich über den Boden ziehen kann. Und trotzdem kann sie es nicht ansehen. Weicht mit dem Blick aus. „Utabazi“ ist der Name, den sie für ihn ausgewählt hat. Er bedeutet „er gehört zu denen“.

Wie klein er wirkt, in die dicke Decke gewickelt. Sie kennt sein Gewicht, hat ihn auf ihrem Rücken durch die Straßen der Stadt getragen. Doch von nun an wird er ohne sie aufwachsen. Wie lange wird es dauern, bis ihr Körper das Gefühl der Last vergisst, die feuchte Wärme seiner Wange durch den Stoff des Tuchs? Bald wird er zu schwer sein, um ihn zu tragen, er wird an der Hand von jemand anderem gehen. Sie beugt sich hinunter, holt die Tasche unter dem Bett hervor. Sie muss weit weg sein, bevor die anderen zurückkommen. 

Auf die Decke neben das Kind legt sie die beiden Plastikkarten mit seinem Namen darauf, das kleine Heft von der Klinik und das Reisepapier mit dem angehefteten Foto. Darauf ist er noch ein winziger Säugling, das Gesicht voll Geschrei und Tränen. Ihre Hände sind auch darauf, wie sie ihn in das Blitzlicht der Kamera hält, ihre Finger dunkel auf dem Weiß seines zu großen Hemdchens.

An der Tür blickt sie sich noch einmal kurz um, dann tritt sie hinaus in den Flur und schließt leise die Tür. Das Haus ist still und dämmrig, alle Vorhänge sind zurückgezogen, um das Licht hereinzulassen, wenn es kommt. Sonst gibt es nichts, was sie dem Kind hinterlassen könnte. Sie kann keinen Brief schreiben, besitzt keine Kette aus Holzperlen, die sie ihm um den Hals legen könnte. Besser, wenn nichts von ihr bleibt. Wenn sie spurlos aus ihm verschwindet. Er ist zu klein, um sich zu erinnern.

Der Morgen ist regenfeucht, es riecht nach Erde. In der Ferne jenseits des Strandes schimmern dunstverhangen die Umrisse der Stadt, wie unter Wasser. Langsam geht sie durch die Dünen. Sie bleibt noch einmal stehen, blickt zurück auf das kleine Cottage. Dann folgt sie dem Verlauf der Straße, und ihre Schuhe hinterlassen dunkle Spuren auf dem nassen Gras.

 

 

Harlem, New York

Juni 1997

 

Marina fragte sich später oft, wann die ersten Stimmen von Constances Plan im Innern des Mädchens zu flüstern begonnen hatten. Ob es etwas von Anfang an Berechnetes gewesen war, ein quälendes Vorhaben mit einem Kern von Barmherzigkeit darin, oder schiere Verzweiflung, hastig und aus dem Moment heraus. Immer wieder reiste Marina in ihrer Erinnerung zurück und versuchte, die merkwürdigen Ereignisse dieses Sommers zu ordnen. Manchmal glaubte sie, dass der Samenan jenem ersten Tag in Harlem auf der Straße gesät worden war; eine Art Test der Verbindung zu dem kleinen Jungen. Dass Constance während der darauf folgenden Monate einfach nur auf den richtigen Augenblick gewartet hatte. Bestimmt hatte es Anzeichen dafür gegeben, was das Mädchen vorhatte, aber Marina hatte sie nicht gesehen, wie sie in dem Sommer so vieles nicht gesehen hatte.

Aber vielleicht wissen wir nichts wirklich mit Sicherheit. Jacob würde die Geschichte anders erzählen. Er würde sagen, dass es ihr eigenes wachsendes Verlangen gewesen war, das es dem Mädchen ermöglicht hatte, das Kind schließlich loszulassen. Dass alles, was geschehen war, im Grunde durch Marina ausgelöst wurde. Und Constance? Sie würden nie erfahren, wie ihre Version der Geschichte lautete, weil sie sich, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, in den Wind geworfen hatte und fortgetragen worden war, zusammen mit all den Verschwundenen, Wanderern und Heimatlosen. Constance war fort, aber sie würden für immer gezwungen sein, an sie zu denken, denn ihr Leben, wie wenig sie auch davon wussten, war jetzt untrennbar mit dem Ihren verbunden.

 

Diese ersten Sommermonate in Harlem verschmolzen in Marinas Erinnerung zu einer einzigen langen,zermürbenden  Hitze. Die lärmende Glut der Straßen, das matte Flirren der Nachmittage, die träge Schwüle der Abende. Aus den U-Bahn-Schächten stiegen heiße Luftwirbel auf, und das Rumpeln und Scheppern der Züge unter ihnen schien lauter als in allen anderen Teilen der Stadt. Es war schwer vorstellbar, dass es jemals Herbst werden würde.

Durch die Hitze entstand im Viertel ein eigentümliches Gefühl von Solidarität, als stünden sie unter Belagerung. Die Gespräche drehten sich immer wieder um die außergewöhnlichen Temperaturen, das Nichtendenwollen der Hitzewelle. Allen blieb nichtsanderes als die Kapitulation. 

In diesen ersten Monaten war alles in Harlem außergewöhnlich. Die Männer aus der Karibik, die an der Second Avenue den Vorbeifahrenden ihre Waren anboten, die curanderamit ihren bemalten Schaufenstern und ihren getrockneten Kräuterbündeln, die alten Italienerinnen, die die Stufen vor ihren Eingängen fegten, die Kramer und Dosensammler, die Bettler, die sich die Treppen der U-Bahn-Stationen hocharbeiteten, den Pappbecher vor sich ausgestreckt, die jungen Mexikanerinnen, die an den Straßenecken Tamales verkauften. Alles wirkte fremd und magisch. Diese unvorstellbaren Leben, die verlorenen Straßen, die Kirchen inmitten der Ladenzeilen, die Mietshäuser mit den vorgebauten Feuerschutztreppen – alles schien eine Geschichte in sich zu tragen. „He, Romeo. He, Julia“, rief der Bettler am Eingang zum Mount Morris Park ihr und Jacob jedes Mal zu, wenn sie daran vorbeigingen. „Habt ihr vielleicht ’n bisschen Kleingeld für mich?“ Derselbe Refrain, jeden Tag dieses Sommers, begleitet vom lauten Rütteln seines Bechers. Marina gab ihm oft etwas aufs Geratewohl, mal eine Handvoll Münzen, mal einen Zehn-Dollar-Schein. Für sie war es eine Art Steuer für ihre Anwesenheit hier, in einem Viertel, das eigentlich anderen gehörte.

Sie und Jacob hatten das Brownstone-Haus an der 120. Straße im vergangenen Winter gekauft. Seit sie den hohen, schmalen Altbau am Rand des Mount Morris Park zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sie nicht mehr losgelassen. Die verwitterte Fassade, der vorgebaute Erker, der verwilderte, schattige kleine Garten mit seiner verfallenen Grotte – alles wirkte wie verzaubert. Das Haus hatte einem kleinen Nonnenorden gehört, der seit einem halben Jahrhundert dort gelebt hatte, doch nun waren die letzten von ihnen zu alt geworden, um sich darum zu kümmern, und in einen Alterssitz nach Upstate New York gezogen. Bevor sie und Jacob mit dem Renovieren begonnen hatten, war Marina durchs Haus gegangen und hatte die Holzkreuze eingesammelt, die noch in jedem der Schlafzimmer hingen, Erinnerungen an die frommen alten Frauen, die jeden Morgen auf dem Dielenboden gekniet und auf schmalen Eisenbetten geschlafen hatten. Ihr gefiel die Vorstellung, dass es ein geheiligter Ort war. Dass es möglich war, in einem Stand der Gnade zu leben. Sie stellte sich vor, wie die Nonnen die Treppen hinuntergingen und die Finger in die kleine Messingschale mit Weihwasser tauchten, die noch am Türrahmen befestigt gewesen war, als sie und Jacob das Haus zum ersten Mal besichtigt hatten.

Acht Nonnen hatten hier gelebt, hatte der Makler ihnen erzählt. Davor mehrere italienische Familien, die die vier Etagen unter sich aufgeteilt hatten. Nun, da nur Marina und Jacob und sein Sohn Ben dort wohnten, fühlte sich das Haus seltsam leer an. Es war die größte Unterkunft, in der Marina je gewohnt hatte. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, Jacobs psychiatrische Praxis hierher zu verlegen, so dass er seine Klienten in dem Raum im Untergeschoss empfangen konnte, der einen eigenen Eingang unterhalb des Treppenvorbaus hatte. Die Nonnen hatten dort ihre Suppenküche und die Andachten abgehalten, deshalb wäre er wie geschaffen für seine weltliche Form der Seelsorge, scherzte Jacob. Das mangelnde Licht konnte mit Lampen ausgeglichen werden, die dem Raum eine weiche, intime Atmosphäre verleihen würden. Sie kauften ein langes Sofa mit Leinenbezug und einen Ledersessel und hängten ein vergrößertes Foto auf, das ein helles Wolkenband über dem Meer zeigte.

Doch nachdem sie eingezogen waren, zögerte Jacob. Nun, da sie hier wohnten, war er nicht mehr so sicher, ob es seinen Klienten recht wäre, nach Harlem zu kommen. Marina wusste, dass es nicht nur das war. Das Brownstone an der 22. Straße in Chelsea, in dem er arbeitete, war ein sehr großer Teil seines Lebens. Dort hatte er seit über zwanzig Jahren seine Praxis; sie war wie eine Art Staffelstab an ihn übergegangen, als seine eigene Analytikerin in den Ruhestand gegangen war. Er genoss es, dass sie nur einen kurzen Fußmarsch entfernt war von seinem Büro in der New York University, wo er zwei Nachmittage in der Woche im Fachbereich Psychiatrie unterrichtete, von der Parkbank neben dem Triumphbogen am Washington Square, wo er, wenn es nicht zu kalt war, seinen Mittagsimbiss aß, und vom Café an der Ecke, wo man wusste, was er bestellen wollte. So viel von seinem Leben fand in dem Raum statt, so viel von seinem Denken war eingerahmt von dem Blick aus dem Erkerfenster, wo die Sonne über die Sandsteinfassaden der Häuser auf der anderen Straßenseite spielte. Als es schließlich so weit war, brachte Jacob es nicht über sich, die Praxis in Chelsea aufzugeben. Sie konnten sich die Miete leisten – das Geld war nicht das Thema, sagte er.

Was war dann das Thema, hatte Marina sich gefragt, während sie sich in dem schönen Raum umsah, den sie in Harlem für ihn eingerichtet hatten. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Jacob vor allem deshalb an der Praxis in Chelsea festhielt, damit er weiterhin etwas hatte, das nur ihm gehörte. Einen Rückzugsort abseits ihres gemeinsamen Lebens. Marina wusste, dass er manchmal noch lange nach der Arbeit in der Praxis blieb. Dann legte er sich auf das Ledersofa, die Füße auf den Armlehnen, ein Buch auf dem Schoß. Er genoss es, nach dem vielen Reden die Stille im Raum zu spüren, hatte er ihr mal erzählt. Nachdem sein letzter Klient gegangen war, sagte er, dauerte es mindestens eine Stunde, bis das Echo der Stimmen des Tages verklungen und in seinem Kopf wieder Platz war. Das konnte Marina ihm schlecht verübeln, schließlich war ihr Schreiben auch ein geheimer Raum; ein Ort, an den sie sich zurückzog und wo sie nicht gestört werden wollte. Manchmal fiel es ihr schwer, nach einem Arbeitstag wieder aufzutauchen und die wirkliche Welt nicht als fadenscheinig und flüchtig zu empfinden.

Selbst nach fast zehn Jahren Ehe gab es immer noch Seiten an ihrem Mann, die sie nicht kannte. Trotz all der großen und kleinen Dinge, die sie voneinander wussten, gab es Tiefen, die noch nicht ausgelotet waren und es vielleicht auch nie sein würden. Manchmal schien es Marina, als hätten sie sich beide unbewusst dazu entschieden, ihr jeweils bestes Ich zu sein, in ihrer Vertrautheit eine Großzügigkeit zu bewahren, die in anderen Beziehungen vielleicht schon längst weggefallen wäre. Eine Ehe verträgt nicht allzu viele Reibereien, hatte mal jemand zu ihr gesagt, und sie glaubte, dass das stimmte. Für sie und Jacob war diese Liebe ein unerwartetes Geschenk, eine seltene und wundersame zweite Chance. Das war ihnen bewusst, und es machte sie sorgsam im Umgang miteinander und mit ihrer Liebe. Sie musste genährt und gepflegt werden. Sie gaben auf eine Weise acht darauf, wie sie es vielleicht nicht getan hätten, wäre sie nicht auf beträchtlichen Schmerz gefolgt.