Naomi Wood: Diese goldenen Jahre


1922 beginnen fünf junge Menschen ihr Studium am Bauhaus in Weimar. Es ist die Zeit ihres Lebens, Jahre voller Glanz, Ekstase und dem Rausch der Freiheit. Sie glühen für die Ideale dieser revolutionären Kunstwelt und können es kaum erwarten, sich darin zu verlieren. Doch so intensiv die Freundschaft zwischen ihnen auch scheint, sie ist durchwirkt von Geheimnissen, Intrigen und unglücklicher Liebe. Und als die goldenen Zwanziger endgültig vorüber sind, bricht all das so sorgsam Verborgene hervor - und zieht die Freunde in einen tiefen Abgrund.

Roman

Atlantik (2019)

Originaltitel: The Hiding Game

ISBN 978-3-455-00544-8

EUR 22,00




Leseprobe

     England

 

Walter ist tot. Irmi hat mich mitten in der Nacht angerufen, um es mir mitzuteilen. Sie klang bestürzt und verstand nicht, warum ich es nicht auch war. „Er war dein Freund, Paul“, sagte sie. „Wie kannst du so gleichgültig bleiben?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich.

Walter, der Unberechenbare, der Unsympath – im Grunde war er ebenso wenig mein Freund wie Jenö, der schon vor Jahrzehnten in London untergetaucht ist. Warum sollte ich traurig sein, dass Walter tot ist? Sein Leben bestand nur aus eigennützigem Verrat und gedankenloser Gehässigkeit, und als ich Berlin endgültig verließ, hatte ich jeden Kontakt zu ihm abgebrochen.

Ich empfand nichts, was mich nicht weiter überraschte.

Jetzt ist die Hälfte unserer Clique tot: Walter durch den Schlaganfall; Kaspar, den sie mit seinem Flugzeug über Alexandria abgeschossen haben; und Charlotte, die in Buchenwald gestorben ist, nur wenige Kilometer nördlich von Weimar, wo diese Geschichte beginnt.

Ich denke jeden Tag an Charlotte. Die Erinnerungen an sie sind wie Stromschläge. Manchmal sitze ich mit dem Pinsel in der Hand vor einer Leinwand, und dann durchzuckt mich plötzlich ein Schmerz, selbst nach all dieser Zeit. Fast dreißig Jahre sind seit ihrem Tod vergangen; vierzig, seit wir zusammen in Berlin gelebt haben. Jetzt besucht sie mich in meinen Träumen, beim Mittagessen oder wenn ich in der Badewanne liege. Ich sehe sie an ihrem Webstuhl sitzen, in ihren Männerkleidern durch den Tiergarten schlendern oder wie sie kurz vor der Razzia erklärt, dass sie Deutschland nicht verlassen wird.

Von mir aus hätte Walter drei Mal sterben können, wenn sie dafür verschont geblieben wäre. Aber was nützen diese Gedanken schon. Ich gebe ihm die Schuld an ihrem Tod. Er hätte Ernst Steiner bitten können, sie aus dem Lager herauszuholen, er hätte mit den richtigen Leuten reden können. Es hätte in seiner Macht gestanden. Aber vielleicht war es sogar sein letzter, krönender Schachzug, sie dort in dem Wald sterben zu lassen, wo wir sechs im Sommer so oft kampiert hatten, bevor wir mit unseren Rädern durch das flirrende Helldunkel der Bäume in die Stadt zurückfuhren. Damals in diesen ersten, goldenen Jahren am Bauhaus.

Jeder von uns würde das, was geschehen ist, anders erzählen, und ich kann meine Subjektivität nicht leugnen. Mir ist klar, dass die Geschichte im Rückblick von Kummer gefärbt ist: Mein Glück erscheint strahlender, und der Schmerz hat den schweren Zeiten vielleicht mehr Tiefe verliehen. Manchmal beneide ich mein jüngeres Ich, dann wieder erscheint mir die Vergangenheit wie eine Ruine.

Dies ist mein Bericht darüber, was wir in den zwanziger Jahren erlebt haben, einem Jahrzehnt voller Glanz und Tragik. Doch wenn ich diese Geschichte erzähle, muss ich ehrlich und unvoreingenommen sein. Und ich muss ein Geständnis ablegen. All die Jahre habe ich Walter die Schuld gegeben, doch dabei habe ich die Augen davor verschlossen, was ich getan oder vielmehr nichtgetan habe, um Charlotte zu retten.

Ein Freund von mir meinte einmal, ein Geheimnis sei wahrlich schändlich, wenn es niemals in Worte gefasst werden könne, und das Schweigen werde mit Scham erkauft. All die Jahre habe ich geschwiegen, doch nun soll damit Schluss sein. Als Charlotte und ich zusammen in Berlin lebten, gab es einen Augenblick, als auch ich sie hätte retten können. Walter stellte mich vor die Wahl, alle Fakten lagen auf dem Tisch – und ich entschied mich, nichts zu unternehmen. Es war keine hastige, übereilte Entscheidung. Ich dachte zwei Wochen lang darüber nach.

Wenn Walter Charlotte getötet hat, dann habe auch ich sie getötet.

 

 

 

Weimar 1922

 

Unser erstes Jahr am Bauhaus – was für ein schillerndes Jahr! Damals waren wir zu sechst: Walter und Jenö, Kaspar und Irmi, Charlotte und ich. Schon von Anfang an in dieser Kombination. Wir waren achtzehn und Jenö zwanzig, als wir mit dem Vorkurs begannen. Uns wurde alles über Farbe und Form, Stofflichkeit und Materie beigebracht. Wir lernten das gesamte Wesen eines Objekts kennen: die Papierhaftigkeit von Papier, die Holzhaftigkeit von Holz, die Faserigkeit von Faden und Seil. Vor allem aber lernten wir zu fasten und wie das Fasten in unserem hungrigen Ich eine ganze Welt aus Glanz, Chaos und Genuss entstehen lassen konnte.

Vom ersten Tag des Semesters an war ich fasziniert von Charlotte. Ich begegnete ihr mittags in der schuleigenen Kantine. Die Septembersonne schien zwischen den Bäumen hindurch auf die langen Tische, und ihr Gesicht war eine Leinwand, auf der sich Licht und Schatten mischten. Vielleicht lag es daran, dass ihr Blick so schwer zu deuten war; er war zurückhaltend und zugleich intensiv.

Ich saß mit Walter und Jenö am einen Ende des Tisches. Ich hatte die beiden bei der Einführungsveranstaltung des Direktors kennengelernt, und wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden. Charlotte saß mit Irmi und Kaspar am anderen Ende.

Walter und Jenö sprachen darüber, wo ihre Brüder während des Krieges gewesen waren. Ich hatte keine Lust, über meinen Bruder Peter zu sprechen – es war zu schmerzlich und zu kompliziert –, außerdem war ich abgelenkt von Charlotte. Ihr kinnlanges blondes Haar war in einer geraden Linie geschnitten, und sie hatte hübsche grüne Augen, die jedoch nichts preisgaben. Mit ihrem schlanken, geradezu knochigen Körper hatte sie etwas Jungenhaftes an sich. Sie lächelte kaum.

Als Walter und Jenö aufbrachen, um sich die Stadt anzusehen – Walter wollte Goethes Haus besichtigen –, blieb ich sitzen und sah zu, wie Charlotte einen Apfel aß, dessen Rot in der Nähe ihrer Augen noch mehr zu leuchten schien.

„Du bist in Meister Ittens Klasse“, sagte ich.

Sie errötete. „Sind wir das nicht alle?“

Ich fragte, ob ich mich zu ihr setzen könnte, und sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber.

„Wie heißt du?“

„Charlotte“, sagte sie.

Sie hatte einen leichten Akzent. „Woher kommst du, Charlotte?“

„Aus Prag. Und du?“, fragte sie. „Ich meine, wie heißt du?“

„Paul. Paul Beckermann.“

Manchmal überkommt einen das Glück mit solcher Wucht, dass einem schwindelig wird, und in diesem Moment musste ich mich buchstäblich am Stuhl festhalten. „Ich habe Lust auf einen Spaziergang. Kommst du mit?“

Sie lächelte, und da war es endgültig um mich geschehen. Während ich neben ihr herging, dachte ich: Sag ihr nicht, dass du sie liebst. Nicht fünf Minuten, nachdem du sie kennengelernt hast.

 

(...)

 

Es gab noch weitere Einführungsveranstaltungen an diesem Nachmittag, und so kehrten wir gemeinsam zurück zur Schule, begierig darauf, Meister Klee und Meister Kandinsky kennenzulernen, die Stars der Malerei. Viele von uns waren vor allem ihretwegen gekommen, aber wie sich zeigte, hatten die beiden wenig mit den Erstsemestern zu tun, oder mit den Bauhaus-Babys, wie wir genannt wurden.

Stattdessen erteilte uns Meister Itten, ein Schweizer Maler, unsere erste Lektion. Er hatte eine dunkelrote Kutte an, war kahlgeschoren und trug eine runde Brille, die bisweilen so spiegelte, dass man seine Augen dahinter nicht sehen konnte. Als meine Eltern hergekommen waren, um sich die Schule anzusehen, hatten sie dem Direktor freundlich nickend gelauscht, denn diesen Typ Mann, gepflegt mit Anzug und Krawatte, kannten sie. Ich wünschte, sie hätten jetzt Meister Itten sehen können, der aussah wie ein Mönch und in dessen ganzem Wesen das Feuer der Hingabe brannte. 

Er verzichtete auf eine Einleitung, sagte nur, es gebe nicht genug Geld für Stühle, und wir sollten uns auf den Fußboden setzen. Nachdem er uns in Gruppen eingeteilt hatte, arrangierte er jeweils in der Mitte ein paar Bücher und eine Zitrone und wies uns an, ein Stillleben zu zeichnen. Dann verließ er den Raum.

In der Schule war ich immer gut in naturgetreuer Wiedergabe gewesen, und ich war so vertieft in die Aufgabe, dass ich gar nicht merkte, wie viel Zeit vergangen war, als Meister Itten wieder hereinkam. Ich zeigte Charlotte mein Skizzenbuch, und sie nickte, mochte mir ihres aber nicht zeigen. Itten sah sich die Zeichnungen von jedem Einzelnen an, und er bewegte sich so leise, dass ich mich fragte, ob er überhaupt Schuhe anhatte. Alle wirkten verunsichert. Bei mir waren die Bücher eckig und die Zitrone rund, aber wir befanden uns am Bauhaus, und das war bestimmt nicht richtig.

„Nein“, sagte er schließlich und bestätigte damit unsere Befürchtungen. Er nahm eine der Zitronen, ging damit nach vorne und schnitt sie mit einem Taschenmesser durch, sodass sich ihr Duft zart im Raum ausbreitete. Dann biss er hinein, und alle verzogen das Gesicht. „Wie können Sie eine Zitrone zeichnen, ohne zuvor ihr Fleisch zu kosten? Sie zeichnen mit Ihrem ganzenKörper. Ihrem Mund, Ihrem Bauch, Ihrer Lunge. Wenn Sie denken, es geht nur um die Hand und die Augen und das Hirn, sind Sie tot, und Ihr Bild ist es auch. Eine Zitrone ist nicht einfach nur eine Zitrone: Sie ist ihre Säure, ihre Adstringenz, ihre Kerne, ihre Segmente, ihr pyramidenförmiges Inneres. Sie ist nicht mit Luft gefüllte gelbe Haut oder Bleistiftstriche auf Papier. Die Zitrone ist eine Odaliske. Sie müssen sie verführen. Sich von ihr verführen lassen.“

Er warf die Frucht in den Raum, und Walter fing sie auf.

Itten begann auf und ab zu gehen, ganz von seinem Thema gefangen. „Eine Zeichnung ist keine Vorarbeit. Sie ist das Ziel. Schon Vasari wusste das: Was wir tun, wenn wir zeichnen, ist ein Akt des furor, der Leidenschaft. Erst als Leonardo Papier statt Papyrus zur Verfügung hatte, konnte er nicht nur zeichnen, sondern erfinden. Die Denker der Renaissance forderten die Künstler auf, ein Gleichgewicht zwischen decorumund licenzazu finden. Die Zeichnung ist Freiheit, weil sie alle Möglichkeiten eröffnet: Die Zitrone kann eine Brust sein, ein Mund, ein Tumor, oder“ – er breitete die geöffneten Hände aus – „die Zitrone ist in Wirklichkeit gar nicht da. Fangen Sie noch einmal von Neuem an. Aber mit licenza“, sagte er und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Licenza! Licenza! Licenza!“

Der Meister sah zu, wie wir die Zitrone zu erforschen begannen, an ihr schnupperten, sie schälten und kosteten. Später legte er seine Hände auf Charlottes Schultern. „Ihnen sitzt noch der Schlaf im Nacken“, sagte er. „Den müssen Sie abschütteln.“

 

Es war bereits dunkel, als wir zu unserem Willkommensfest kamen. Irgendwann nach dem Mittagessen waren die Fenster der Kantine mit Zeitungen verhüllt worden. Leute aus der Stadt versuchten hineinzuspähen, aber außer ein paar schmalen Lichtstreifen war nichts zu sehen. Beim Näherkommen hörten Walter und ich seltsame Musik aus dem Innern. „Das ist es“, sagte er, aber ich hatte keine Ahnung, was „das“ sein könnte. Ich dachte an Charlottes ängstliche Frage: „Was um alles in der Welt sollen wir hier tun?“ Vielleicht würde dieser Abend ihr eine Antwort geben.

Um in die Kantine zu gelangen, mussten wir durch einen Tunnel in Form eines Bierfasses kriechen. Drinnen hatten ältere Studenten die Wände mit Motiven bemalt: rote Vierecke, blaue Kreise und gelbe Dreiecke – die Farben und Formen des Bauhauses. Von der Decke hingen Bänder und Stofffetzen. Ein Trompeter spielte unmelodische Biepsund Bops.

Wir hatten schon ein paar Gläser getrunken, als Meister Itten erschien. Jetzt trug er eine Art Bürgermeisterumhang, einen napoleonischen Hut und türkische Schuhe mit hochgezwirbelter Spitze. Er schlug gegen sein Glas, und während der Lärm verstummte, entdeckte ich Charlotte, die ganz in der Nähe stand. 

„Diesen albernen Aufzug verdanke ich den Studenten des Abschlussjahrgangs.“ Gelächter erhob sich aus der Menge. Fast alle hier trugen schlichte schwarze Hemden und Hosen, Frauen wie Männer. „Aber das hat einen Sinn. Heute Morgen hat der Direktor Ihnen die praktischen Aspekte Ihres ersten Jahres erklärt. Sie werden etwas über Stofflichkeit, Licht, Farbe, Temperatur und Form lernen. Das gilt für alles, nicht nur Malfarbe und Kohlestift, sondern auch für Draht, Stein und Papier. Von jetzt an werden Sie nur zeichnen und malen, wenn Sie das Material verstanden haben. Ziel ist die Produktion, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Der Grund dafür, dass ich in diesem Aufzug vor Ihnen stehe“ – von einer Seite des Raumes ertönte ein Johlen, und der Direktor in seinem Anzug trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen – „und dass Sie auf allen vieren hereinkrabbeln mussten, ist, dass Sie – dass wir– hier sind, um zu spielen. Außerhalb dieses Raumes gibt es Leute, denen die Vorstellung spielender Erwachsener gegen den Strich geht, aber das ist unsere Herangehensweise. Spielen. Wagen. Ausprobieren. Studieren. Beobachten. Licenza. Die Zunge in die Zitrone stecken. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich will, dass Sie jeden Tag eine Zeitlang nichts tun. Gar nichts. Für viele ist das eine schreckliche Vorstellung. Tun Sie es trotzdem. Nichts zu tun, ist ein radikaler Akt. Was wir hier tun werden – und das sollten Sie frühzeitig lernen –, hat nur für den Augenblick Bestand. In vielen meiner Kurse werde ich Sie sogar dazu drängen, wegzuwerfen, was Sie erschaffen haben. Unser grundlegendes Prinzip ist nicht Originalität, sondern methodisches Vorgehen. Denken ist schaffen, und schaffen ist denken. Wenn Sie sich an dieses Prinzip halten, können Sie gar nicht anders, als Freude zu empfinden. Kreativität ist in ihrem kindlichsten Ursprung assoziativ, regellos und chaotisch. Gott schütze die Bauhaus-Babys!“

Jubel und Beifall ertönten von allen Seiten, selbst der Direktor, der gar nicht wie ein Architekt aussah, sondern eher wie ein Buchhalter, klatschte. Dann rief ein Student alle Erstsemester nach vorne.

„Brillant, nicht wahr?“, sagte Charlotte neben mir.

„Ja“, antwortete ich, obwohl ich nicht so recht verstanden hatte, was er wollte. „Wirklich beeindruckend.“

Wir stellten uns in einer Reihe auf und krochen wieder nach draußen. Dann gingen wir im Gänsemarsch zum Frauenplan, einem Platz mit vielen Cafés, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Dort musste jeder Einzelne vortreten, sich umdrehen und sich rücklings in die ausgestreckten Arme von zwei älteren Studenten fallen lassen. Untermalt von einem schrillen Trompetenstoß wurde er dann mit dem „Weihwasser“ des Brunnens als Bauhaus-Baby getauft. Die Leute in den Cafés sahen uns an, als wären wir verrückt, und die Kellner fuchtelten mit den Armen, als wollten sie streunende Hunde verjagen.

Doch die „Täufer“ störten sich nicht daran. Der Direktor und Meister Itten waren längst verschwunden.

Ich spürte Charlottes Unruhe, während wir zusahen, wie unsere neuen Freunde getauft wurden: erst Jenö und Walter, dann Irmi und Kaspar. Als sie an der Reihe war, wirkte sie merkwürdig angespannt, und sie trat nur zögerlich an den Brunnen. Sie drehte sich zwar um, doch als sie sich fallen lassen sollte, riss sie die Arme hoch, taumelte und fing sich wieder. Alle sahen sie an. Sie versuchte es noch einmal. Der „Täufer“ benetzte ihre Stirn, der Trompeter trötete, und Charlotte wurde wieder auf die Füße gestellt. Als sie fertig war, ging sie auf einen Kellner zu, der draußen vor den Tischen seines Cafés stand, und sie kam ihm so nah, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr im letzten Moment auszuweichen.