Eoin Colfer: Die Fowl-Zwillinge und der geheimnisvolle Jäger


Die Zwillinge Myles und Beckett Fowl führen ein sorgenfreies und etwas langweiliges Leben auf einer idyllischen irischen Insel. Der Rest der berühmt-berüchtigten Familie Fowl ist abwesend, das elektronische Abwehrsystem Nanni beaufsichtigt die beiden. Die beiden Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Myles am liebsten geniale elektronische Geräte entwickelt, ist Beckett den ganzen Tag in der Natur und spricht mit Pflanzen und Tieren. Der alternde Bösewicht Lord Teddy Bleedham-Drye ist vom Jungsein besessen. Als er hört, dass es die Quelle der ewigen Jugend auf einer irischen Insel gibt, macht er sich auf den Weg dorthin. Doch er ahnt nicht, dass er dafür an den Fowls vorbei muss. Als Lord Teddy seinen Angriff startet, geraten Myles und Beckett in helle Aufregung. Endlich hat die Langeweile ein Ende, und sie können ihrem intelligenten, elektronischen Abwehrsystem zeigen, was in ihnen steckt!

Jugendbuch

List (2019)

Originaltitel: The Fowl Twins

ISBN 978-3-471-36008-8

EUR 14,00




Leseprobe

Plant jemand, ein Familienoberhaupt zu ermorden, ist es sehr wichtig, auch den Rest der Familie kaltzumachen, denn sonst könnten die entsetzten Überlebenden auf die Idee kommen, sich blutig zu rächen oder zumindest in der nächsten Polizeiwache aufzutauchen und alles auszuplaudern. Diesem Thema widmet Professor Wulf Bane in seinem Handbuch für Meisterverbrecher, einem berühmt-berüchtigten Werk für angehende Missetäter, das kein seriöser Verlag herausbringen wollte und das der Verfasser nun selbst vertreibt, ein ganzes Kapitel. Es trägt die Überschrift: „Mach alle platt – auch die Haustiere.“ Ein gruseliger Titel, der die meisten normalen Menschen davon abhalten dürfte, es zu lesen, aber Lord Teddy Bleedham-Drye, Herzog von Scilly, war kein normaler Mensch. Die schaurigsten Sätze in seiner Ausgabe des Handbuchs für Meisterverbrecherwaren mit pinkfarbenem Marker angestrichen, und das Buch trug die Widmung:

 

Für Teddy

Von Meisterverbrecher zu Meisterverbrecher

Lass dich mal wieder blicken!

Wulfy

 

Lord Bleedham-Drye hatte den überwiegenden Teil seiner gut einhundertfünfzig Jahre auf dieser grünen Erde darauf verwendet, so lange wie nur möglich aufihr zu bleiben, anstatt in ihr begraben zu werden. In Fernsehinterviews behauptete er gern, er verdanke sein jugendliches Aussehen Yoga und Lebertran, aber in Wirklichkeit hatte Lord Teddy einen Großteil seines ererbten Vermögens für Reisen kreuz und quer über den Globus ausgegeben, um nach sämtlichen legalen und illegalen Pülverchen und Mittelchen zu suchen, die seine Lebensspanne verlängern konnten. Als Reisender Botschafter der Krone war es für Lord Teddy nicht weiter schwierig, einen Vorwand zu finden, um im Namen der Kultur die abgelegensten Ecken der Welt zu besuchen, während er in Wirklichkeit nach allem Ausschau hielt, was wuchs, schwamm, watschelte oder krabbelte und ihm helfen konnte, die ihm zugedachte Lebenszeit auch nur um eine Minute auszudehnen.

Bisher hatte Lord Teddy sämtliche Verjüngungstherapien ausprobiert, derer er habhaft werden konnte. So hatte er unter anderem tonnenweise Weidenrindenextrakt geschluckt, Millionen von Antioxidantien-Kapseln eingeworfen, Gallonen von therapeutischem Arsen getrunken, sich die Zerebrospinalflüssigkeit der vom Aussterben bedrohten Madagaskar-Lemuren gespritzt, zahllose Portionen südostasiatischer Leberegelspaghetti hinuntergewürgt und fast einen Monat lang über einem aktiven isländischen Vulkangraben in der Luft gehangen, um sich die stärkenden Gase in die Leinenshorts blasen zu lassen. Diese und weitere extreme Praktiken – die nicht zur Nachahmung empfohlen werden – hatten Bleedham-Drye in der Tat am Leben und munter gehalten, allerdings nicht ohne Nebenwirkungen. Die Lemurenflüssigkeit hatte seine Arme verlängert, sodass seine Hände jetzt unterhalb der Knie hingen. Durch das Arsen war sein linker Mundwinkel gelähmt und das Gesicht zu einer Grimasse hämischen Spotts erstarrt, und die heißen vulkanischen Gase hatten ihm den Hintern verbrannt, sodass er krummbeinig laufen musste wie ein Matrose bei schwerer See. Doch er nahm diese Nebenwirkungen gerne im Kauf, denn dafür hatte er keine einzige Falte im Gesicht, eine üppige Haarpracht, einen dichten schwarzen Kinnbart und natürlich die Kraft, die nötig war, um die beschwerlichen Wanderungen und Safaris auf der Suche nach weiteren lebensverlängernden Maßnahmen und Mitteln durchzuhalten.

Aber Lord Teddy wusste nur zu gut, dass er bisher noch nicht den Jackpot geknackt hatte, was die Ausdehnung seiner Lebenszeit anging. Gut, er hatte ein paar zusätzliche Jahrzehnte herausgeschlagen, aber welche Bedeutung hatte das angesichts der Ewigkeit? Es gab sogar Quallen, die länger gelebt hatten als er. Quallen! Dabei hatten die nicht mal ein Gehirn!

Teddy war frustriert, was er gar nicht leiden konnte, denn davon bekam man Falten.

Es war Zeit für einen Richtungswechsel.

Schluss mit dem albernen Kleinkram, der höchstens ein paar Monate oder ein Jahr brachte.

Ich muss den Quell der ewigen Jugend finden, beschloss er eines Abends, als er in seiner Messingwanne mit den Zitteraalen lag, die angeblich ausgezeichnet für die Durchblutung waren.

Wie sich zeigen sollte, fand Lord Bleedham-Drye in der Tat den Quell der ewigen Jugend, allerdings war es kein Quell im herkömmlichen Sinn, da die Leben spendende Flüssigkeit im Gift eines mythologischen Wesens enthalten war. Und die Familie, die er voraussichtlich aus dem Weg räumen musste, um daranzukommen, war keine andere als die der Fowls aus Dublin, Irland, die generell nicht sonderlich erpicht darauf waren, ermordet zu werden.

 

Und so begann die ganze bedauerliche Geschichte:

Lord Teddy Bleedham-Drye war zu der Überzeugung gelangt, dass es, wenn man etwas tun wollte, aber nicht wusste, wie es ging, das Schlaueste war, Leute um Rat zu fragen, die es geschafft hatten. Und so machte er sich daran, die ältesten Menschen auf der Welt zu befragen. Das war nicht so einfach, wie es klingt, selbst in Zeiten von Internet und wundersamen handlichen Kommunikationsgeräten, denn viele alte Leute verkünden der Welt nicht, dass sie die Hundert überschritten haben, schließlich wollen sie nicht von Gesundheitsjournalisten und königlichen Glückwunschtelegrammen belästigt werden. Dennoch gelang es Lord Teddy im Lauf von fünf Jahren, ein paar dieser schwer zu findenden Oldies aufzuspüren, allerdings erwiesen sie sich als entweder schrecklich tugendhaft, was ihm wenig nützte, oder vom Glück begünstigt, was sich weder nachahmen noch stehlen ließ. Bis er eines Tages auf einen irischen Mönch stieß, der ausgerechnet in einer kalifornischen Elefantenrettungsstation arbeitete, weil er es längst aufgegeben hatte, den Menschen helfen zu wollen. Bruder Colman sah keinen Tag älter aus als fünfzig und war bemerkenswert fit für jemanden, der behauptete, fast fünfhundert Jahre alt zu sein.

Nachdem Lord Teddy ihm eine großzügige Dosis Natriumpentothal in den Tee geschummelt hatte, erzählte Bruder Colman eine höchst interessante Geschichte darüber, wie die heilige Quelle von Dalkey Island im fünfzehnten Jahrhundert, als er dort als Mönch gelebt hatte, zu ihren Heilkräften gekommen war.

Teddy glaubte ihm kein Wort, aber der Name Dalkey löste irgendwo in seinem Kopf eine Alarmglocke aus, die er jedoch fürs Erste ausblendete.

Der Trottel faselt Unsinn, dachte er. Ich habe ihm zu viel von dem Wahrheitsserum gegeben.

Da der angebliche Mönch zu benommen war, um irgendetwas mitzubekommen, nutzte Bleedham-Drye die Gelegenheit, ein paar einfache Überprüfungen vorzunehmen, von denen er sich allerdings nichts erwartete.

Als Erstes knöpfte er das Hemd des Mannes auf und stellte überrascht fest, dass Bruder Colmans Brust von hässlichen Narben überzogen war, die zwar zu der Geschichte passten, aber noch keinen Beweis darstellten.

Gut möglich, dass der Idiot sich von einem seiner eigenen Elefanten hat aufspießen lassen, dachte Lord Teddy. Andererseits hatte er im Lauf seiner hundertfünfzig Jahre schon viele Wunden gesehen, aber noch nie etwas so Schauriges an einem lebenden Menschen.

Dann also mein zweiter Test, dachte Teddy. Er zückte seine Gartenschere und schnitt Bruder Colman kurzerhand den linken kleinen Finger ab. Schließlich log die Radiokarbonmethode nie.

Es würde einige Wochen dauern, bis die Ergebnisse aus dem Labor mit dem Beschleuniger-Massenspektrometer vorlagen, und bis dahin war Teddy längst wieder in England, genauer gesagt auf dem Familiensitz Childerblaine House, gelegen auf der Insel St. George, die zu den Scilly-Inseln gehörte. Von dieser Insel wird behauptet, dass einer der verschiedenen Versionen der Legende um den Heiligen Georg zufolge der enthauptete Leib des Drachen an der Küste von Cornwall ins Meer geworfen und zu den Scilly-Inseln getrieben wurde, wo er an einem Unterwasserfelsen hängen geblieben und versteinert sei – was eine hübsche Erklärung für den geschwungenen Bergkamm der Insel war.

Lord Teddy saß gerade einmal wieder in seinem Verjüngungsbad, als er den Umschlag des Labors in seiner Post entdeckte. Lustlos schlitzte er ihn auf, da er fest damit rechnete, dass der Ausflug zu Bruder Colman nichts weiter gewesen war als eine kolossale Verschwendung seiner kostbaren Zeit und seines schwindenden Vermögens.

Doch beim Anblick des Ergebnisses setzte er sich so abrupt auf, dass mehrere Aale aus der Wanne schwappten. „Allmächtiger!“, rief er aus, und seine dunkle Mähne waberte und knisterte von der elektrischen Ladung. „Auf nach Dalkey Island!“

Der Bericht des Labors war kurz und sachlich, wie es bei Wissenschaftlern üblich ist. 

Das untersuchte Objekt, stand dort, ist zwischen vier- und fünfhundert Jahre alt.

Lord Teddy schlüpfte in seine Standardausrüstung, die aus hohen Stiefeln, Reithosen, einem Jagdblazer aus Tweed und seiner alten Militärmütze bestand. Dann belud er sein hölzernes Schnellboot mit allem, was für eine Observierung – wie die Polizei das heutzutage nannte – nötig war. Erst als er mit der Juventasschon mitten auf der Irischen See war, fiel Lord Teddy ein, warum ihm der Name Dalkey so bekannt vorkam. Dort lebte doch dieser Fowl.

Artemis Fowl.

Der war nicht zu unterschätzen. Teddy hatte ein paar Geschichten über Artemis Fowl gehört, und sogar noch einige mehr über seinen Sohn, Artemis den Zweiten.

Gerüchte, sagte er sich. Gerüchte, Hörensagen und albernes Gewäsch.

Und selbst wenn die Geschichten wahr waren, ließ er, der Herzog von Scilly, sich doch von sowas nicht von seinem Plan abbringen.

Ich werde das Gift dieses Trolls kriegen, schwor er sich und gab Vollgas. Und ich werde ewig leben.