Rachel Elliott: Bären Füttern verboten


Sydney Smith ist Freerunnerin, doch an einen Ort wollen ihre Füße sie einfach nicht mehr tragen: nach St. Ives an der Küste Südenglands. Als sie an ihrem 47. Geburtstag endlich den Aufbruch dorthin wagt, wird sie nicht nur mit dem schmerzhaftesten Moment aus ihrer Vergangenheit konfrontiert, sondern auch mit einer Reihe skurriler Menschen: Zahntechnikerin Maria backt Muffins mit heilenden Kräften, Buchhändler Dexter ist mit der Liebe durch und trägt manchmal gerne Kleider, und Belle wohnt mit Ende zwanzig noch immer bei ihren Eltern, trägt »Ich ♥ Otter«-T-Shirts, und führt das Hängebauchschwein der Nachbarn aus. Sie alle eint die Frage, wer eigentlich bestimmt, wann unser Leben einen Sinn hat, und ihre Schicksale verweben sich zu einer tröstlichen Geschichte: über Hilfe, die man nur von anderen bekommt, und darüber, wie man weitermachen kann, wenn die eigene Welt sich nicht mehr dreht.

Roman

Mare (2020)

Originaltitel: Do Not Feed the Bear

ISBN 978-3-86648-624-9

EUR 22,00




Leseprobe

Ich bin acht, als ich zum ersten Mal einen toten Menschen sehe. Mum und ich sind im Flannery’s, dem Kaufhaus, in das wir jeden Sommer gehen. Bevor wir den Toten finden, suchen wir nach einem Geburtstagsgeschenk für Dad.

Ich hab’s, sagt Mum. Autohandschuhe.

Diese Worte setzen einen schwierigen Entscheidungsprozess in Gang, der dreiundfünfzig Minuten dauern wird.

Wir stehen vor einem langen gläsernen Tresen und betrachten fünf Paar lederne Autohandschuhe, die alle mehr kosten, als Mum ausgeben möchte.

Drehen wir eine Runde?, sagt sie. Das ist ihr Geheimcode für Ich glaube, wir zwei müssen uns mal unterhalten. In diesem Fall bedeutet er Lass uns ein bisschen umhergehen, damit wir in Ruhe überlegen können:

schwarz oder braun

schick oder praktisch

langlebig oder preisgünstig

oder sollen wir ihm eine Origami-Eule basteln?

oder sollen wir ihm eine Pilz-Quiche backen?

Wir durchqueren einen Dschungel aus Unterwäsche, und ich höre ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.

Als wir am Aufzug vorbeikommen, taucht wie aus dem Nichts ein Mann auf und hält uns ein Sprühfläschchen mit Parfüm entgegen.

Auf keinen Fall, sagt Mum und hebt die Hand.

Jasmin und Iris, sagt der Mann.

Das bezweifle ich sehr, sagt Mum. Das ist alles künstlich, und wahrscheinlich enthält es Pferdeurin.

Ganz bestimmt nicht, sagt der Mann.

Ist nicht Ihre Schuld. Sie müssen ja auch Ihren Lebensunterhalt verdienen.

Ich schäme mich in Grund und Boden. Das ist nicht das erste Mal, dass sie in aller Öffentlichkeit über Pferdeurin spricht.

Mum?, frage ich.

Ja, Sydney.

Wonach riecht Pferdeurin?

Nach Jasmin und Iris. Und ich will nicht, dass du das in deine Lunge kriegst, womöglich geht das nie wieder raus.

Ich bin verwirrt.

Jetzt stehen wir erneut vor dem Glastresen und betrachten die Handschuhe.

Da sind Sie ja wieder, sagt die Verkäuferin. Haben Sie sich entschieden?

Mum holt entschlossen Luft, als wollte sie etwas sagen.

Doch es kommt nichts.

Oje, seufzt sie schließlich.

Die Verkäuferin lächelt. Sie heißt Vita, wie das Namensschild auf ihrer Seidenbluse verrät. Vitas Haare sehen sehr seltsam aus, als wäre ein schwarzer Helm aus dem All gefallen und auf ihrem Kopf gelandet. Sie sind vollkommen glatt und wie eine Kugel geschnitten, mit einem schnurgeraden Pony, der bis zu ihren Augen reicht. Ein Bob, so heißt das. Das weiß ich da noch nicht, aber ich werde den Ausdruck später verwenden, wenn ich mich an den Toten erinnere und Ruth davon erzähle.

Ich suche nach Antennen, die aus dem Helm ragen, nach außerirdischer Überwachungstechnik. Nein, nichts zu sehen. Nur makellos glänzendes Plastik. Hübsch und zugleich enttäuschend.

Sie sehen aus wie eine von meinen Playmobilfiguren, sage ich. Sie haben genau die gleichen Haare.

Ist das gut oder schlecht?, fragt Vita.

Ich spüre, dass ich mit der Antwort etwas falsch machen könnte, und schaue zu Mum.

Oh, sie liebtihre Playmobilfiguren, sagt Mum. Sie bindet ihnen Schnüre um den Bauch und lässt sie sich an der Hauswand abseilen. Gleich wollen wir noch einen Cowboy dazukaufen.

Wie nett, sagt Vita. Sie blickt auf die Handschuhe. Sind die für Sie?, fragt sie.

Nein, sagt Mum. Es sind ja Männerhandschuhe, nicht?

Natürlich, sagt Vita, die merkt, dass sie vom Weg abgekommen ist, ihren Part vergessen hat.

Also gut, sagt Mum.

Sie ist gestresst, wie meistens, wenn sie Geld ausgeben soll. Ich stehe auf den Zehenspitzen, und wir starren alle drei auf die Handschuhe, als würden wir darauf warten, dass sie etwas Aufregendes tun, zum Beispiel von allein den Platz wechseln.

Doch Vita ist keine Zauberin. Zumindest nicht während der Arbeitszeit. Niemand weiß, was sie tut, wenn sie nach Hause kommt.

(Wir ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Vita zum Beispiel eine Polizeiuniform anzieht, die sie in einem Kostümgeschäft gekauft hat, und damit spätabends durch die Straßen geht. Ein paar Tage später, als Mum es in der Lokalzeitung liest, bezeichnet sie es als absolut faszinierend.

Mum findet alles Mögliche faszinierend, und sie versucht, diese Begeisterungsfähigkeit auch in meinem Bruder und mir zu wecken.

Sie, während wir durch den Wald gehen: Findest du dieses Blatt nicht faszinierend, Sydney?

Ich, mit dem Blick nach unten: Geht so.)

Ich glaube, ich nehme die, sagt Mum zu Vita und zeigt auf Paar Nummer drei, das in der Mitte. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise nimmt Mum immer das Billigste.

Ausgezeichnete Wahl, sagt Vita.

Ich wette, das hätten Sie bei jedem Paar gesagt, sagt Mum. Dann wird sie nervös und fängt an, ganz schnell zu reden. Das war unhöflich, sagt sie. Aber so habe ich es nicht gemeint, ich dachte nur, Sie müssen bestimmt den ganzen Tag nette Sachen zu den Leuten sagen. Das gehört zu Ihrer Arbeit, so was zu sagen wie ausgezeichnete Wahl, nicht?

Ohne zu antworten, packt Vita die Handschuhe erst in Seidenpapier und dann in eine Tüte. Die Tüte ist steif und eckig und pfirsichfarben, mit dem Aufdruck Flannery’s in großen, geschwungenen Buchstaben auf der Seite. Nächste Woche, wenn wir aus den Ferien zurück sind, wird Mum darin Umschläge sammeln und in dem Seidenpapier das Einzugsgeschenk für eine Freundin verpacken. So was nennt man einfallsreich und kreativ, wird sie zu Jason und mir sagen, während wir unsere Cornflakes essen und uns ihren endlosen Vortrag über unsere Wegwerfgesellschaftanhören. Mum hält uns gerne Vorträge. Ihre Lieblingsthemen sind Verschwendung, Profitgier und die Bedeutung von Langeweile für Kindergehirne. Was den letzten Punkt angeht, bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen – mein Gehirn und Jasons sind supergesund, vor allem dank dieser Vorträge.

Endlich sind wir fertig. Wir lassen Vitas Helm und ihre Parfümwolke hinter uns und machen uns auf den Weg in die Spielzeugabteilung im vierten Stock. Vor uns liegt jetzt eine Bahn, eine Piste, ein Labyrinth aus Teppichwegen. Ich bewege mich so schnell ich kann, ohne zu laufen, und Mum sagt, langsam, Sydney, renn doch nicht so. Sie weiß, was los ist, was in mir vorgeht: dass ich vorausstürmen will, die Hände ausgestreckt nach allem, woran ich hochklettern und wovon ich runterspringen kann. Gleich wird sie mir wieder einen Vortrag halten, über Sicherheit und darüber, was man tut und was nicht, es sei denn, man ist a) ein deutlich jüngeres Kind auf einem Spielplatz oder b) eine Sportlerin, die für die Olympiade trainiert. Ich bin weder a) noch b), also welcher Buchstabe bin ich? Manchmal n) wie nervtötend oder w) wie wild, aber meistens u) wie unartig. Aber ich verstehe einfach nicht, warum die Leute sich so komisch bewegen, so roboterartig, immer nur kleine Schritte. Warum springen sie nicht umher, erkunden all die Oberflächen, probieren unterschiedliche Geschwindigkeiten aus, machen neue Bewegungen anstatt immer nur rechts, links, schön ordentlich und immer auf dem Boden?

Um zu den Spielsachen zu kommen, muss man durch die Bettenabteilung. Meine Augen werden ganz groß. Lauter Trampoline und weiche Landemöglichkeiten. Ihr könnt eure Süßigkeiten, eure Puppen und euer Fernsehen behalten. Viel lieber wäre mir eine halbe Stunde allein auf diesem Hindernisparcours, wo ich von Matratze zu Matratze springen kann.

Aber heute bin ich brav. Ich stelle Mums Geduld nicht auf die Probe, wie sie es nennt. Ich gehe, wie es sich gehört.

Bis ich einen Mann auf einem der Betten liegen sehe, auf zwei Kissen gestützt. Er fällt mir auf, weil er Schuhe anhat, und man darf nicht mit Schuhen ins Bett. 

Woher ich das weiß? Weil Jason sich mal mit seinen neuen Turnschuhen ins Bett gelegt hat. Kurz davor war er im Garten, wo der Hund vom Nachbarn herumgelaufen ist, und da ist er mit seinen Pumas in Hundescheiße getreten – beziehungsweise in A-A, wie wir das während des ganzen dramatischen Zwischenfalls nennen sollten. Als Mum nach oben kam, um uns gute Nacht zu sagen, gab es erst Geschnüffel und dann lautes Geschrei. Sie lief hinaus und kam mit Dad zurück, der Gummihandschuhe anhatte und sehr ernst dreinschaute. Jasons Laken, Bettwäsche und Decke wurden in drei Plastiksäcke gepackt und in die Mülltonne gestopft, weil Dad meinte, selbst mit Desinfektionsmittel würden sie nicht wieder richtig sauber. Die Sachen waren noch ziemlich neu, deshalb hat Mum geweint und Gin-Tonic getrunken und Stevie Wonder gehört (Mum liebt Stevie Wonder). Am nächsten Tag kam eine Frau in einem weißen Overall, um die Teppiche sauberzumachen. Sie hieß Lulu. Ist das Ihr richtiger Name?, fragte Mum. Ist Ila Ihrrichtiger Name?, fragte Lulu zurück. Ja, schon, sagte Mum. Lulus Overall war pieksauber, wie unsere Tischdecke. Darf ich mal anfassen?, fragte Mum. Wenn’s Sie glücklich macht, sagte Lulu. Um die Taille trug sie den breitesten Gürtel, den ich je gesehen hatte; die goldene Schnalle war so groß wie mein Kopf. Ich mache die Scheiße von anderen Leuten weg, sagte sie. In diesem Haus sagen wir dazu A-A, sagte Mum. Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem, sagte Lulu.

Ich bleibe stehen und sehe den Mann an, der da auf dem Bett liegt, sodass Mum auch stehenbleibt.

Es ist unhöflich, jemanden anzustarren, sagt sie.

Aber dann sieht sie, was ich sehe.

Der Mann bewegt sich nicht.

Wir stehen nebeneinander am Fußende eines Doppelbetts und schauen auf seinen offenen Mund und die offenen Augen. Ich strecke die Hand aus und berühre seine schwarzen Lederschuhe, die blitzblank poliert sind.

Ich mag seine roten Socken, sage ich. So welche möchte ich auch. Was macht er da?

Du liebe Güte, sagt Mum. Sie weicht zurück, als hätte sie sich erschreckt, nimmt meine Hand und zieht mich weg zur Kasse, wo sie flüstert: Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot. Und ich denke, das klingt wie der Anfang von einem der Gedichte, die Dad mir abends vorliest.

Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot.

Was mag passiert sein? Hat er große Not?

Hol doch jemand den Herrn Doktor

Hier hilft kein Spielzeughelikopter.

Dass ich den toten Mann gesehen habe, macht mir nichts aus, aber Mum denkt, es wäre so, und das ist prima, denn um mich zu trösten, kauft sie mir statt des versprochenen Cowboys einen Playmobil-Krankenwagen. Ich kann es gar nicht glauben. So was kriegt man sonst nur zu Weihnachten, nicht an einem ganz normalen Tag.

Na, sagt Mum, als wir ins Auto steigen, das war ja vielleicht ein Morgen. Alles in Ordnung, Sydney?

Mir geht’s gut, sage ich und schnuppere an meinem Krankenwagen.

Mum klappt die Handtasche auf, nimmt zwei Schokokekse heraus, die sie in ein Papiertaschentuch gewickelt hat, und gibt mir einen davon. 

Sollen wir das Radio anmachen?, fragt sie. Es tut uns vielleicht gut, ein bisschen zu singen.

Warum tut das gut?

Weil es befreit.

Während sie uns zum Zeltplatz in St. Ives zurückfährt, singen wir zu „Matchstalk Men and Matchstalk Cats and Dogs“, „Rivers of Babylon“ und „Take a Chance on Me“.

Woher kennst du die ganzen Texte?, frage ich.

Liedtexte kann ich mir leicht merken, sagt Mum.

Wir parken neben unserem Zelt und gehen direkt zum Strand, um Dad und Jason zu suchen.

Die beiden sitzen auf einer Decke, die Blicke gesenkt, beschäftigt. Jason nimmt ein kaputtes Radio auseinander, das er extra für diese Reise aufgehoben hat.

Was ist das?, fragt er und blickt auf.

Ein Geschenk, sage ich und gebe ihm den Satz Mini-Schraubenzieher, den Mum bei Flannery’s für ihn gekauft hat.

Oh, super, sagt er, denn Jason liebt Werkzeug genauso wie ich Stifte. Übrigens hat mein Bruder eine echt seltsame Angewohnheit: Manchmal vergräbt er seine Lieblingssachen im Garten. Ja, wie ein Hund seinen Knochen. Nur dass Jason seine Sachen vorher in Tupperdosen packt, damit sie nicht schmutzig werden. Das macht er schon seit Jahren. Angefangen hat es mit seinem Action Man und Lego. Mum und Dad wissen nichts davon. Wenn wir wieder zu Hause sind, wird Mum fragen, wo die Schraubenzieher sind. An einem ganz sicheren Ort, wird Jason sagen, während ich meine Buchstabennudeln esse und den Mund halte. Jeder hat ein Recht auf ein paar Geheimnisse, selbst mein seltsamer Bruder.

Dad lackiert seine neueste Kreation: eine Holzkiste mit lauter offenen Fächern, und in jedem davon steckt ein Haken.

Was ist das denn?, frage ich.

Ach, nichts, sagt er. Habt ihr was Schönes gekauft?

Ich erzähle ihm von dem Mann auf dem Bett, der womöglich tot ist, und zeige ihm meinen Krankenwagen. Er fragt, ob ich was Süßes will, Zucker tut bei einem Schock immer gut. Ja, bitte, sage ich. Er greift in die Kühltasche und holt eine Dose mit pudrigen Bonbons heraus.

Danke. Warum tust du die in die Kühlbox?, frage ich.

Warum nicht?, sagt er.

Was hast du denn noch da drin?, fragt Mum.

Hm, sagt er und kramt ein bisschen.

Würstchen im Schlafrock, Eier-Sandwiches, Käse-Zwiebel-Chips, Weingummi, Negerküsse und eine Flasche Orangenlimo.

Nicht übel, sagt Mum.

Wir machen es uns bequem, setzen uns nebeneinander, essen unser Picknick und schauen aufs Meer.

Ganz schön frisch hier, nicht?, sagt Jason.

Reine Einstellungssache, sagt Mum.

 

Ich bin zehn, als ich zum zweiten Mal einen toten Menschen sehe.

Da ist nichts, was befreit.

Da wird nicht zur Radiomusik gesungen.