Clarisse Sabard: Die Frau im veilchenblauen Mantel


Jo ist mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden: Sie ist Single, Anfang dreißig, hat Freunde, mit denen sie Pferde stehlen kann, und einen Opa, der immer für sie da ist. Doch ein Unfall verändert alles: Sie erfährt, dass sie sich einer Operation am Gehirn unterziehen muss, ein Aneurysma könnte ihr Leben gefährden. Um Jo auf andere Gedanken zu bringen, zeigt ihr Opa ihr ein geheimnisvolles Medaillon mit einem Zettel darin: "Von Charlotte für Gabriel". Wer waren die beiden, und wie gelangte das Medaillon in den Besitz des Großvaters? Auf der Flucht vor der Gegenwart taucht Jo in ihre Familiengeschichte ein, ihre Suche wird sie bis ins Amerika der zwanziger Jahre führen - und ihr Leben für immer verändern.

 

Roman

Insel (2022)

Originaltitel: La femme au manteau violet

ISBN 978-3-458-68215-8

EUR 10,95




Leseprobe

Paris, März 1957

 

Sie war da. Reglos, fast starr. Mit einer Würde, die scheinbar nichts zu erschüttern vermochte.

Victor hatte sie bemerkt, als sie ihren Platz einnahm, nicht weit vom Boxring entfernt. Vierte Reihe. Es war ihr Mantel, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, derselbe wie damals, obwohl es zehn Jahre her war: ein langer, veilchenblauer Mantel. Er hätte sie vergessen, ihre kurze Begegnung aus seinem Gedächtnis löschen können. Was bedeuteten schon ein paar Minuten in einem ganzen Leben? Doch sie war da, und sie strahlte dieselbe Entschlossenheit aus, die ihm schon beim ersten Mal aufgefallen war. Schlagartig überkam ihn Panik.

„Was ist los? Du bist ja ganz blass.“

Victor drehte sich zu seinem Trainer um und griff nach den Bandagen. „Schon gut, Dédé. Ich bin nur ein bisschen nervös.“

Der Trainer nickte, einen Zahnstocher zwischen den Lippen. „Verstehe. Ist dein letzter Kampf. Du willst alles geben.“

Victor schluckte. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. „Hilfst du mir?“, fragte er und hielt ihm die Bandagen hin.

Diese rituellen Gesten hatte er mehr als hundert Mal durchgeführt. Dieser Abend war sein letzter im Ring, weil seine Frau die Ungewissheit nicht mehr ertrug, in welchem Zustand er nach einem Kampf sein würde, die Angst, er könnte unter den Schlägen sterben. Außerdem mussten sie an den Jungen denken. Das war doch kein Leben, immerzu fürchten zu müssen, dass er von einem Tag auf den anderen ohne Vater dastand. Bei dieser neuen Generation von Kerlen, die um jeden Preis siegen und sich in diesem undankbaren Sport etablieren wollten, war alles möglich.

„So, fertig, Victor.“ Dédé versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Schulter. „Alles gut verpackt.“

Die Bandagen sollten Verletzungen der Mittelhandknochen verhindern und den Schweiß aufsaugen. Er musste seine Hände so gut wie nur möglich schützen. Eine gebrochene Nase, ein ausgeschlagener Zahn, eine aufgeplatzte Augenbraue, das war nicht weiter schlimm. Aber wenn seine Hände ausfielen, konnte er seine Karriere an den Nagel hängen. Wobei ihm das jetzt egal sein konnte.

Er zog die Handschuhe an und lauschte auf das Gemurmel des Publikums, ein entfesseltes und elektrisierendes Hintergrundgeräusch. Heute Abend kämpfte Victor Queyrioux zum letzten Mal. Das war schon etwas Besonderes.

„Bist du bereit?“

Er nickte nur und trat auf den Ring zu. Sechs mal sechs Meter. Drei mit Kunststoff überzogene Hanfseile, dreißig  Zentimeter von den Pfosten entfernt. Boxen war ein Sport, in dem es vor allem auf Logik und Intelligenz ankam. Nichts war dem Zufall überlassen, das hatte er schnell gelernt: Man musste sich verteidigen, Schlägen ausweichen, ohne Kraft zu verschwenden, angreifen, genau zielen. Hier wird sich nicht geschlagen, hier lernt man boxen. Das war das Erste, was Raymond, sein Trainer damals nach dem Krieg, ihm beigebracht hatte.

„Dann mal los, Victor!“, verkündete Dédé. „Zeig uns, was du kannst. Dafür sind die Leute gekommen.“

Unter lautem Beifall stiegen die beiden Boxer in den Ring und begrüßten ihr Publikum. Draußen hämmerte der Regen auf die Dächer und Straßen, aber in der voll besetzten Halle war es fast zu warm. Victor spürte ein letztes Mal den Adrenalinstoß, der nötig war, um in den Kampf zu gehen. Würde er als Sieger oder als Verlierer aus dem Ring steigen? Er wusste es nicht. Er hatte nur sein Training, seinen Mut und seine Technik. Schläge einstecken und austeilen. Das Leben hatte ihn schon als kleinen Jungen mutig und flink gemacht, denn seinem jähzornigen Vater war schnell die Hand ausgerutscht, und er hatte gelernt, den Fäusten auszuweichen. Deshalb machte es ihm keine Angst, sich einem gut vorbereiteten Gegner zu stellen. Ihn, den die Lokalpresse den „Boxer mit der gnadenlosen Faust“ nannte, konnte nichts mehr aus der Fassung bringen.

Bevor der Gong erklang, gab Victor einem Impuls nach und sah zu der Frau im veilchenblauen Mantel. Ihre Blicke kreuzten sich. Was tat sie hier? Nein, es musste ein Zufall sein. Eine andere Frau, die ihr bis aufs Haar glich. Vielleicht war sie eine von denen, die mit blutrünstigem Blick die Kämpfe verfolgte und „Bring ihn um!“ brüllte, wenn ihr Favorit den Gegner bedrängte.

Die erste Runde begann, und Victor wich gerade noch rechtzeitig einem Schlag aus. Er beschloss, seinen Gegner zunächst durch Ausweichmanöver zu ermüden und erst in den letzten Runden zum Angriff überzugehen. Bolo Punch, Haken. Bis jetzt lief alles gut, und er brachte die drei Minuten unbeschadet hinter sich. Die Frau war immer noch da, leicht verschleiert durch den Zigarettenrauch ihrer Nachbarn. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit angespannt, als fürchtete sie, er könne sich plötzlich vor ihren Augen in Luft auflösen. Der Mann, der sie begleitete, war älter als sie.

Zweite Runde. Abwehrhaltung. Plötzlich musste er an das Jahr 1947 denken. Stimmen, erst gedämpft, dann Schreie und Drohungen. Alles war so schnell gegangen! Sein Vater, der die Frau schlug und buchstäblich hinauswarf, die Verzweiflung in ihren Augen. In seine Gedanken versunken, sah Victor den Aufwärtshaken nicht kommen. Er flog in die Seile, einen stechenden Schmerz im Unterkiefer. Doch er richtete sich gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Runde auf, und der Sekundant gab ihm Wasser.

„Verdammt, was ist los mit dir?“, brüllte Dédé. „Du bist nicht bei der Sache!“

Victor schüttelte den Kopf. Er musste sich zusammenreißen! Wieso ließ er sich von dieser Frau ablenken, die bestimmt nur eine Verrückte war? Ja, sie konnte nur verrückt sein, wenn sie gekommen war, um ein Kind zu sehen, das seit vielen Jahren tot war. 

Dritte Runde. Victor versuchte, sie aus seinem Kopf zu verjagen. Alles beiseiteschieben, sich ganz auf den Gegner konzentrieren. Jetzt ging es nur um den Kampf. Diesmal entschied er sich für eine aktive Abwehr. Es waren drei intensive, lebhafte Minuten. Es gelang ihm, eine Gerade zu landen und die Manöver seines Gegners zu durchkreuzen. Dédé, der sich nervös auf seinem Sitz wand, beruhigte sich allmählich. Die vierte und die fünfte Runde verliefen zu seinem Vorteil. Victor hatte seine Wachheit und seinen Kampfgeist wiedergefunden. Er würde sich nicht von einem zappeligen Jungen k.o. schlagen lassen und seine Laufbahn mit einer Niederlage beenden. Nach der sechsten Runde trank er einen großen Schluck Wasser. Der Sekundant reichte ihm ein Handtuch, damit er sich den Schweiß abwischen konnte, der ihm aus den braunen Haaren bis auf die durchtrainierte Brust lief. Ohne recht zu wissen, warum, blickte er wieder zu der Frau. Vielleicht um sich zu vergewissern, dass sie nicht nur eine Vision gewesen war. Wenn sie verschwunden gewesen wäre, hätte er erneut die Last auf seinen Schultern verspürt. Doch sie saß immer noch da und ließ ihn nicht aus den Augen. Am liebsten wäre er über die Seile gesprungen und zu ihr gegangen, um ihr noch einmal zu sagen, dass Gabriel tot war. Tot, tot, tot. Gabriel war tot, aber er war da, er lebte. Und während der Gong für die siebte Runde schlug, überrollten ihn noch mehr Erinnerungen. Die heftige Reaktion seines Vaters, als er ihm seine Gewalt ihr gegenüber vorgeworfen hatte. Damals hatte er seine Sachen gepackt und war fortgegangen, und er hatte die Frau im veilchenblauen Mantel vollkommen vergessen.

Der Haken war brutal und schleuderte ihn erneut in die Seile. Unter den entsetzten Rufen der Zuschauer sank Victor in sich zusammen; er bekam keine Luft mehr. Schnell, er musste aufstehen, bevor er für k.o. erklärt wurde, aber seine Beine trugen ihn kaum. Verdammt, so würde er seine Karriere nicht beenden, nicht nach siebenundachtzig Siegen! Beunruhigtes Gemurmel aus dem Publikum. Victor schloss die Augen und kratzte die Reste seines Willens zusammen, der ihn im Stich zu lassen drohte.

„Steh auf und kämpf!“, brüllte Dédé aus voller Lunge.

Da hocken zu bleiben und auf die Niederlage zu warten, wäre einfach, denn ganz gleich, wie es ausging, er würde anschließend in die Vendée zurückkehren und in dem Bestattungsinstitut seiner Schwiegereltern arbeiten. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden. Entweder das Risiko eingehen, weitere Schläge einzustecken, oder seine Ehre verlieren. Dédé flippte auf seinem Stuhl fast aus. Für einen kurzen Moment sah Victor wieder das wutverzerrte Gesicht seines Vaters vor sich, bevor es eine Tracht Prügel gab. Das genügte, um den Boxer in ihm wiederzubeleben. Ein letzter Sieg, dann hätte er auch die Vergangenheit besiegt. Und diesen Vater, der seine Liebe nur in Form von Wut zeigen konnte.

Unter Aufbietung all seiner Kräfte richtete Victor sich schwankend auf. Während der folgenden Runden griff er mit einer Geraden in den Solarplexus, diversen Fausthieben und Aufwärtshaken an. Das Publikum raste. Schließlich überraschte er seinen Gegner in der elften Runde mit einem Overhand. Der andere hatte den von oben geführten Schlag nicht kommen sehen und schaffte es nicht, innerhalb der vorgeschriebenen Zeit wieder auf die Beine zu kommen.

Damit hatte Victor Queyrioux seinen achtundachtzigsten Sieg errungen. Eine Woge von Gefühlen überrollte ihn, als das Ende des Kampfes verkündet wurde. Von jetzt an gehörte das Boxen der Vergangenheit an. Ein ganzer Lebensabschnitt ging zu Ende. Und zugleich war er außer sich vor Freude über den Ausgang dieses letzten Kampfes.

Dédé umarmte ihn fest. Ihm liefen Tränen über die Wangen, und er rief immer wieder: „Du hast es geschafft, Menschenskind! Du hast es geschafft!“

„Jetzt mach mal halblang, ich bin ja nicht Weltmeister geworden“, erwiderte Victor lachend.

„Ist doch egal. Hauptsache, du hast gekämpft und diesem kleinen Scheißer, den sie dir vorgesetzt haben, gezeigt, wo der Hammer hängt. Du gehst mit erhobenem Kopf. Aber du hast mir ganz schön Angst gemacht.“

„Ja, ich mir auch, Dédé.“

Während er sprach, blickte Victor hinüber zu den Sitzreihen, die sich zu leeren begannen. Zu seiner großen Erleichterung war die Frau, deretwegen er beinahe den Kampf verloren hätte, nicht mehr da. Er ärgerte sich darüber, dass er sich so von ihr hatte ablenken lassen, zumal es wahrscheinlich gar nicht sie war, sondern eine andere Frau, die ihr ähnlich sah. Er hatte aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Ja, es war wirklich an der Zeit, dass er sich aus dieser aufregenden Welt der Kämpfe zurückzog.

„Gehen wir“, sagte er zu seinem Trainer.

Nachdem sie sich umgezogen hatten, verließen sie die Sporthalle und traten hinaus in den prasselnden Regen. Die Feuchtigkeit machte die Luft noch kälter, und Victor wollte nur noch so schnell wie möglich zu seinem Renault 4CV, den er sich im vergangenen Jahr gekauft hatte. Er würde seinen letzten Sieg feiern, wie es sich gehörte, Dédé nach Hause bringen und dann ab nach Montaigu. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Da war die Frau im veilchenblauen Mantel wieder. Sie wartete neben einem Auto, geschützt von einem Schirm. Victor rieb sich übers Gesicht. Das war doch nicht möglich!

„Eine Verwandte?“, fragte Dédé und wies mit dem Kopf in ihre Richtung.

„Nein. Ich kenne sie nicht.“ Victor ging mit schnellen Schritten weiter.

Doch die Frau kam auf sie zu. „Bitte warten Sie!“, rief sie.

Victor schloss die Augen. Er wollte keinen Skandal, vor allem nicht jetzt und hier. Langsam wandte er sich zu der Frau, die direkt vor ihm stehenblieb und ihn sichtlich aufgewühlt ansah.

„Ich muss mit Ihnen über Gabriel sprechen“, sagte sie leise.

Unwillkürlich wich Victor zurück. „Sie verwechseln mich.“

Für einen kurzen Moment schien die Frau zu zweifeln, doch dann wiederholte sie mit Nachdruck: „Ich muss mit Ihnen über Gabriel sprechen.“

Nein, er wollte keine Zeit mit den Fantastereien dieser Frau verlieren. Er hatte keine Lust, bei diesem Mistwetter hier stehenzubleiben und mit ihr über ein Kind zu reden, dass seit bald dreißig Jahren tot war.

Er würde ihr sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, sich umdrehen und in sein Auto steigen. Es war ganz einfach. Dachte er zumindest.