Jo Browning Wroe: Der Klang der Erinnerung


Birmingham 1966: William feiert gerade seinen Abschluss als Einbalsamierer, als ihn die Nachricht erreicht, dass im walisischen Aberfan ein Haldenrutsch unzählige Menschen unter sich begraben hat und freiwillige Helfer gesucht werden. Er macht sich umgehend auf den Weg, und während er gemeinsam mit den Bestattern vor Ort arbeitet, ruft ein Musikstück im Radio schmerzhafte Erinnerungen in ihm wach: Erinnerungen an seine Zeit als Chorknabe im Cambridge, die er versucht hatte zu vergessen. Damals hatte er nur einen Wunsch gehabt: in der King's College Chapel das berühmte Solo in Allegris "Miserere" zu singen, das in ihm schon als kleinem Kind die Liebe zur Musik entfacht hatte. Doch an dem großen Tag kommt es zu einem tiefen Zerwürfnis mit seiner Mutter und einer Entscheidung, die seinen weiteren Weg bestimmen wird ... 

Roman

Insel (2022)

Originaltitel: A Terrible Kindness

ISBN 978-3-458-64342-5

EUR 24,00




Leseprobe

1

 

Oktober 1966

 

Gestern ist in Wales etwas Furchtbares passiert, aber es war Williams Abschlusstag, deshalb war er abgelenkt. Er hat seine Ausbildung am Thames College of Embalming mit den besten Noten abgeschlossen, die dort je erzielt wurden. Heute findet der alljährliche gesellschaftliche Höhepunkt des Institute of Embalmers, Bezirksgruppe Midlands statt: der große Dinnerball in Nottingham. Zur Feier von Williams Erfolg, und damit er für diesen besonderen Anlass passend angezogen ist, hat Onkel Robert ihm ein Dinnerjacket und eine Fliege gekauft. Mit seinen neunzehn Jahren ist William ein wenig aufgeregt, aber vor allem nervös, weil sein Onkel ihm gesagt hat, dass ihr Vorsitzender David Melling ihn ins Rampenlicht stellen will.

Siebzig Kilometer von seinem Zuhause in Birmingham entfernt, wird William zum ersten Mal in einem Hotel übernachten, dem Lace Market, zusammen mit Onkel Robert und dessen Geschäftspartner Howard. Mit ihnen am Tisch sitzen die Strouds, eine Bestatterfamilie aus Solihull, und zu seiner Linken die einzige andere Person seines Alters, Gloria Finch, ebenfalls aus einer Bestatterfamilie, bei der William während seines Ausbildungsjahrs in Stepney gewohnt hat. Die wunderbare Gloria, die William seit ihrem ersten Gespräch vor einem Jahr liebt, als sie in der gemütlichen kleinen Küche der Finches Kakao getrunken haben, während ihre Eltern im Wohnzimmer fernsahen. An diesem Abend trägt sie ein enges, mit Pailletten besticktes schwarzes Kleid, in dem ihr ganzer Körper William zuzuzwinkern scheint.

Als „piekfein“ hat Robert die Veranstaltung bezeichnet, und das war nicht übertrieben. Die leuchtend bunt gekleideten Frauen mit ihren funkelnden Hälsen, Handgelenken und Fingern heben sich deutlich vom schlichten Schwarz und Weiß der Männer ab – obwohl Howards Manschettenknöpfe auch funkeln. Howard liebt festliche Anlässe und das ganze Drumherum. Er hat beim Aussuchen von Williams Dinnerjacket und Fliege geholfen und sich hinter ihn gestellt, um ihm zu zeigen, wie man die Fliege bindet. Dabei hat seine Wange ein paarmal Williams gestreift, sodass beide lachen mussten.

William betrachtet die hohe Decke des Ballsaals mit den Stuckverzierungen in Rosa und Weiß, die sich durch die Nischen schlängeln. Mächtige Kristalllüster hängen schwer und herrschaftlich über den Tischen. Rechts und links von Williams Teller liegen vermutlich mehr Messer und Gabeln als in der gesamten Besteckschublade zu Hause – er muss sich von außen nach innen vorarbeiten. Das Messer ist schwer, die Serviette aus weißem Leinen, die er auseinanderfaltet und über seinen Schoß breitet, überraschend steif.

Es ist eine Weile her, dass William so elegant hergerichtete Tische und Leute gesehen hat. Zuletzt in seiner Zeit als Chorknabe in Cambridge, wo er beim Formal Hall oder bei besonderen Anlässen gesungen hat. Rasch schiebt er die Erinnerung beiseite, doch ein Unterschied fällt ihm auf. Selbst als Zehnjähriger hat William verstanden, dass diejenigen, die dort am High Table saßen, nicht angekommen waren; sie waren immer schon dort gewesen, und Opulenz war für sie nichts Besonderes. Heute Abend jedoch ist die Aufregung und die Zufriedenheit dieser Einbalsamierer spürbar, die sich einen Abend der Opulenz verdient haben, als Belohnung für ihre Hingabe an eine anspruchsvolle, wichtige Arbeit; die Arbeit ihrer Großväter, ihrer Väter, und für einige von ihnen die ihrer Söhne.

Nach der Schufterei und Lernerei des letzten Jahres freut sich William, seinen Platz in einer Welt einzunehmen, in der man eine schwierige, aber ehrenwerte Aufgabe erfüllt, so gut man kann, und abgesehen von der eigenen Freude an der Arbeit kaum Lob oder Dank erhält. Aber ab und an bekommt man die Gelegenheit, einander auf die Schulter zu klopfen und sich einen piekfeinen Abend zu gönnen.

Die Fischsuppe ist salzig, aber köstlich zusammen mit dem winzigen Brötchen, auf das er eine Butterflocke gesetzt hat. William benutzt den vollkommen runden Löffel und kippt die Schale von sich weg, als nur noch ein Rest darin ist. Er merkt, dass Gloria ihn beobachtet, und ihre lebendigen grünen Augen strahlen voller Wärme.

„Ich bin froh, dass du mitgekommen bist“, sagt er leise.

„Ich bin froh, dass du mich gefragt hast.“ Sie lächelt und sieht ihm so lange in die Augen, dass William sich traut, unter dem Tisch sanft sein Bein an ihres zu schmiegen.

Der Schweinebraten mit Kruste und Apfelsauce wandert leicht von seinem Teller in seinen Mund und in seinen Magen, und es freut ihn zu sehen, wie sehr Onkel Robert den Abend genießt. Doch während des Nachtischs bekommt er mit, wie David Melling am Haupttisch einen Zettel aus der Brusttasche seines Jacketts zieht, ihn auseinanderfaltet und über seine Brille hinweg mustert. Die Biskuitrolle, die er gerade kaut, quillt plötzlich auf, und das schwere Besteck rutscht in seinen schwitzigen Händen. 

Gloria blickt zum Haupttisch, dann wieder zu William und zwinkert ihm zu. „Mach dich bereit für das Rampenlicht“, flüstert sie, so dicht zu ihm gebeugt, dass er ihren Atem an seinem Ohr spürt und ihr Parfüm riecht. Vorher haben sie darüber gefrotzelt, wie das wohl aussehen würde. Gloria meinte, sie würden vielleicht „For He’s a Jolly Good Fellow“ für ihn singen, und William erwiderte in dem verzweifelten Versuch, lässig und witzig zu erscheinen, er hoffte, sie würden ihn auf ein ganz hohes Podest stellen und sich vor ihm verneigen.

Howard nimmt sich eine Zigarette aus der Schale auf dem Tisch und zündet sie an, Gloria ebenfalls. William, der seine Lunge immer noch als den kostbarsten Teil seines Körpers betrachtet, obwohl er seit fünf Jahren nicht mehr gesungen hat, ist noch nie auf die Idee gekommen, sich eine anzustecken. Dennoch ist etwas Verlockendes an den bläulichen Rauchwolken, die durch den Saal schweben – wie ein gemeinsames Ausatmen und Entspannen. Als aus schlanken Silberkannen Kaffee eingeschenkt wird, lehnen sich die Leute in ihren Stühlen zurück. William will nur noch, dass es vorbei ist. Er sieht, wie Onkel Robert erst zum Haupttisch blickt, dann zu ihm, und ganz leicht nickt.

 

 

 

2

 

„Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie haben das Festessen genossen.“ David Melling lächelt. „Sieht ganz so aus, den leeren Tellern nach zu urteilen.“ Er hält ein Blatt Papier hoch. „Meine Tanzkarte liegt schon bereit, meine Damen, aber ich fürchte, es wird eine Schlange geben, also haben Sie bitte etwas Geduld.“

Nachdem das Gelächter verstummt ist, spricht Mr Melling genau acht Minuten und zehn Sekunden über die hohen Standards des Instituts, seine Wohltätigkeitsarbeit und seine wachsende internationale Bekanntheit. William unterdrückt den Impuls, sich den Schweiß aus dem Nacken zu wischen.

„Doch nun“, sagt der Vorsitzende, legt den Zettel weg und verschränkt die Hände vor dem Bauch, „zu etwas Persönlicherem. In einem Berufszweig, der im Wesentlichen aus Familienunternehmen besteht, obwohl es heutzutage nicht mehr üblich ist, Druck auf die nächste Generation auszuüben, ist es dennoch überaus erfreulich, von einem jungen Mann zu erfahren, der nicht nur den Staffelstab übernimmt, sondern obendrein eine Goldmedaille einheimst.“

Gloria zwinkert ihm zu. „Wo bleibt das Siegertreppchen?“, flüstert sie. Onkel Robert strahlt ihn an. Ihm wird eng in der Kehle. „Unser langjähriges Mitglied Robert Lavery von Lavery & Sons ist diese Woche ein sehr stolzer Onkel.“

Die Vorstellung, dass ihn alle ansehen, ist plötzlich unerträglich. Am liebsten würde William davonlaufen. Aber das kann er Onkel Robert nicht antun. Nicht noch einmal. Er muss seinen Mund zwingen zu lächeln, seinen Blick beruhigen. Sein Herz pocht so heftig, dass er überzeugt ist, sein Hemd wölbt sich bei jedem Schlag vor.

„Der junge William Lavery hat diese Woche seinen Abschluss am Thames College of Embalming gemacht, und damit ist er nicht nur der jüngste Einbalsamierer des Landes ...“

William starrt zu Boden. Wird er aufstehen müssen? Sollte er winken? Sich verneigen? Etwas sagen? David Melling hat aufgehört zu sprechen. William studiert das unruhige gelb-orange Muster des Teppichbodens, den spitzen Brotkrümel neben Glorias hohem Absatz. Warum ist es so still geworden? Er zwingt sich, den Kopf zu heben. Ein Kellner hat David Melling eine Notiz zugesteckt, die er gerade liest.

„Danke“, sagt er zu dem Mann, der durch die große Doppeltür des Ballsaals hinausgeht.

Die Stille ist ohrenbetäubend. Onkel Robert runzelt die Stirn. Mellings Schnurrbart glänzt im Schein des Lüsters, während er auf das rosafarbene Papier blickt.

„Ich bitte um Entschuldigung.“ Er hält es kurz hoch. „Das ist ein Telegramm von Jimmy Doyle aus der Bezirksgruppe Nordirland, und es erfordert leider unsere sofortige Aufmerksamkeit.“ William sieht aus dem Augenwinkel, wie Onkel Robert verärgert auf seinem Stuhl herumrutscht. „Zunächst aber herzlichen Glückwunsch an William Lavery, den ersten Studenten, der in sämtlichen Fächern, Theorie und Praxis, mit Auszeichnung bestanden hat“, fährt Mr Melling, nun wieder mit munterer Miene, fort und lehnt das Telegramm an eine kleine Vase, die vor ihm steht. „Das hat einen ordentlichen Applaus verdient.“ William starrt auf sein Kristallglas, lächelt und nickt ein paarmal. Schweiß rinnt ihm über die linke Schläfe. Gloria tätschelt ihm unter dem Tisch das Knie. „Wir erwarten große Dinge von Ihnen, William.“ Melling schweigt einen Moment, dann greift er wieder nach dem Telegramm. „Doch leider müssen wir uns nun einer anderen wichtigen Sache zuwenden. Es geht um die Tragödie in Aberfan gestern, von der Sie sicher gehört haben.“ Er liest den Text vor: „‘Bitte an versammelte Institutsmitglieder weitergeben.’“ William sieht Streifen von David Mellings Kopfhaut zwischen dem sorgfältig mit Brillantine drapierten Resthaar hindurchschimmern. „‘Dringend Einbalsamierer in Aberfan benötigt. Ausrüstung und Särge mitbringen. Polizei hat Dorf abgesperrt; Passwort Summers.’“ Er legt das Telegramm hin und starrt einen Moment darauf. Ein kalter, süßlicher Geruch steigt William in die Nase; es ist die Vanillesauce in seinem Schälchen. „Ich schlage vor, meine Herren, diejenigen unter Ihnen, die sich imstande fühlen, diesem Hilferuf zu folgen, trinken einen starken Kaffee und machen sich auf den Weg. Wir übrigen werden versuchen, den Rest des Abends in Ihrem Namen zu genießen.“

William weiß, dass sein Onkel sich von diesem Moment des Ruhmes mehr versprochen hat, aber er ist froh, dass er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und spürt, wie in seinem Herzen Entschlossenheit wächst.

„Ich werde hinfahren“, sagt er.

Onkel Robert sieht ihn überrascht an. „Ich glaube, sie brauchen dort Männer mit Erfahrung, William.“ Er blickt zu Howard. „Vielleicht auch solche, die Erfahrung mit Unglücken haben.“

„Davon haben sie nichts gesagt“, wendet William ein. Gloria sieht ihn aufmerksam an.

„Vielleicht sollte ich hinfahren?“, sagt Onkel Robert.

„Das würde dein Rücken nicht mitmachen“, entgegnet Howard sofort. „Kein Schlaf, eine lange Fahrt und dann Gott weiß was.“ Er weist mit dem Kopf auf William, ohne den Blick von Onkel Robert zu wenden. „Der Junge ist ein ausgezeichneter Einbalsamierer, und er ist stärker als du oder ich. Lass ihn fahren.“

„Bei allem Respekt“, hört sich William sagen, „ich brauche keine Erlaubnis. Ich fahre hin.“

Alle am Tisch sehen ihn an – Onkel Robert, Howard, die Strouds, Gloria –, doch das kümmert William nicht.

„Tapfer von dir, Junge.“ Mr Stroud klopft mit den Händen auf den Tisch. „Das sagt mehr über dich als alle Abschlussnoten. Zeig’s ihnen!“

 

Eine halbe Stunde später steht William, in seinen Wintermantel gehüllt, mit seinem Onkel auf dem Gehweg. Er wird zusammen mit zwei weiteren Einbalsamierern zurück nach Birmingham fahren, wo sie sich umziehen und ihre Autos mit der nötigen Ausrüstung und so vielen Särgen wie möglich beladen werden.

„Du wirst Dinge sehen, die du nie wieder vergessen wirst.“ Onkel Robert wirft William einen besorgten Seitenblick zu. Dann wendet er den Kopf wieder und schaut geradeaus. „Deine Mutter wohnt nicht weit von Aberfan.“ Er steckt einen Zettel in Williams Manteltasche. „Du könntest sie besuchen.“

„Nein, kann ich nicht. Das weißt du.“

Die Mundwinkel seines Onkels wandern nach unten, wie jedes Mal, wenn sie von ihr sprechen. Er atmet langsam ein und aus. „Und du weißt, dass ich das nie akzeptiert habe, und ich werde es auch nie akzeptieren.“