Kerri Maher: Die Buchhändlerin von Paris


Eine Buchhandlung mitten in Paris. Für die junge Amerikanerin Sylvia Beach ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dass sie damit in die Geschichte der Weltliteratur eingehen wird, ahnt sie bei der Eröffnung 1919 nicht. Schon bald wird "Shakespeare and Company" zum literarischen Treffpunkt in Paris: Ernest Hemingway, André Gide, Paul Valéry und Gertrude Stein gehen hier ein und aus - und nicht zuletzt James Joyce. Als nach Abdruck einzelner Episoden die vollständige Publikation seines umstrittenen Romans Ulysses verboten wird, ist es die unerschrockene Sylvia Beach, die ihn gegen alle Widerstände veröffentlicht - und damit ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt.

In der gleichgesinnten französischen Buchhändlerin Adrienne Monnier findet Sylvia Beach nicht nur eine wagemutige Mitstreiterin, sondern auch die Liebe ihres Lebens.

Roman

Insel (2022)

Originaltitel: The Paris Bookseller

ISBN 978-3-458-68233-2

EUR 16,00




Leseprobe

Paris war einfach die Stadt.

Sylvia hatte schon fünfzehn Jahre lang versucht, wieder dorthin zu kommen, seit sie mit ihrer Familie dort gelebt hatte. Ihr Vater, Sylvester Beach, war damals Pastor der amerikanischen Kirche im Quartier Latin gewesen und sie ein romantisches junges Mädchen, das Balzac und Cassoulet liebte. Woran sie sich am deutlichsten erinnerte und was sie im Herzen getragen hatte, als ihre Familie in die Vereinigten Staaten zurückkehren musste, war das Gefühl, dass die französische Hauptstadt heller war als alle anderen Städte, die sie kannte oder je kennenlernen würde. Und das lag nicht nur an den flackernden Gaslaternen, die die Straßen nach Einbruch der Dunkelheit erleuchteten, oder an dem schimmernden, fast weißen Stein, aus dem ein großer Teil der Stadt erbaut war – es war das funkelnde, überschäumende Leben in jedem Wasserspiel, jedem Studententreffen, jedem Puppentheater im Jardin du Luxembourg und jeder Oper im Théâtre de l’Odéon. Auch ihre Mutter sprühte vor Lebendigkeit, las Bücher, lud Professoren, Politiker und Schauspieler ein und servierte ihnen üppige Mahle im Schein der Kerzen, während angeregt über Bücher und Geschehnisse in der Welt diskutiert wurde. Eleanor Beach sagte ihren drei Töchtern – Cyprian, Sylvia und Holly –, dass sie an einem wunderbaren, außergewöhnlichen Ort lebten, der ihr Leben für immer verändern würde.

Nichts hatte daran gereicht, weder das Plakatebasteln, Telefonieren und Von-Haus-zu-Haus-Gehen für die National Woman’s Party in New York zusammen mit ihren Schwestern und ihrer Mutter noch die Reisen allein kreuz und quer durch Europa, bei denen sie die Kirchtürme und Kopfsteinpflaster vieler anderer Städte bestaunt hatte, noch der lang ersehnte erste Kuss von ihrer Klassenkameradin Gemma Bradford oder das Lob ihrer Lieblingslehrerinnen.

Doch nun war sie wieder hier und lebte sogar in der Stadt, die ihre Seele gefangen genommen hatte.

Sylvia verließ die Zimmer im unfassbar schönen, wenn auch halb verfallenen Palais Royal, die sie sich mit ihrer Schwester Cyprian teilte, ging hinunter zur Pont Neuf und überquerte die Seine. Der Wind, der vom Fluss heraufwehte, zerzauste ihre kurzen Locken und drohte ihre Zigarette auszupusten. Mitten auf der Brücke blieb sie stehen, um die Kathedrale Notre-Dame zu betrachten, mit ihren symmetrischen gotischen Türmen, die neben dem großen Rosettenfenster aufragten, und den so zierlich wirkenden Bögen, die dennoch seit Jahrhunderten die mächtigen Mauern stützten.

Bald darauf wanderte sie durch die schmalen Straßen des Quartier Latin, die ihr noch von früher vertraut waren. Dabei verlief sie sich ein wenig, aber das war nicht weiter schlimm, denn so bekam sie Gelegenheit, die Église de Saint-Germaine-des-Prés zu bewundern und eine hübsche Studentin, die an einem der Tische vor dem Les Deux Magots einen Café Crème trank, nach dem Weg zu fragen. Schließlich blieb sie vor dem Haus Rue de l’Odéon 7 stehen, der Buchhandlung von A. Monnier.

Die Fassade des kleinen Ladens von Madame – ou peut-être mademoiselle? – Monnier war in einem angenehmen Grau gestrichen, und über den großen Schaufenstern zog sich in einem helleren Ton der Schriftzug mit dem Namen der Inhaberin. Als Sylvia die Tür öffnete, bimmelte fröhlich ein Glöckchen. Zwischen den deckenhohen, dicht mit Büchern gefüllten Regalen standen mehrere Kunden; sie stöberten und lasen, aber da niemand etwas sagte, war es so still wie in einer leeren Kirche. Von plötzlicher Scheu erfasst, was den Anlass ihres Kommens anging, blickte Sylvia sich um und verschob ihre Frage auf später.

Sie war froh über diese Entscheidung, denn sie entdeckte ein paar schöne Ausgaben ihrer französischen Lieblingsromane und las fast eine ganze Kurzgeschichte in der neuesten Ausgabe von Vers et Prose. Während sie das tat, erwachte die Buchhandlung um sie herum zum Leben. Kunden tätigten Käufe, die die Kasse zum Klingeln brachten, und gesprächigere Paare kamen herein und vertrieben die Stille.

Sylvia nahm das Buch, das sie hatte kaufen wollen, und die Zeitschrift, in der sie gelesen hatte, und ging damit zu der großen Registrierkasse aus Messing, hinter der eine junge Frau, ungefähr in ihrem Alter, stand und sie mit schmalen Lippen anlächelte. Mit ihren mittelmeerblauen Augen, der hellen Haut und dem rabenschwarzen Haar war sie so bemerkenswert, dass man sie einfach ansehen musste. Im Geist hörte Sylvia, wie Cyprian die Kleidung der Frau als altmodisch kritisierte – der bodenlange Rock und die bis zum Kinn zugeknöpfte Bluse bildeten einen allzu strengen Schutzschild für den sinnlichen Körper darunter –, aber ihr gefiel einfach alles an dieser Frau. Sie sah aus wie jemand, mit dem man reden konnte. Doch da war noch mehr, und Sylvia verspürte den starken Impuls, über die weiche Wange der Frau zu streichen.

„Haben Sie gefunden ... wonach Ihr Herz verlangt?“, fragte die Frau auf Englisch, mit starkem Akzent.

Wonach mein Herz verlangt? Sylvia schmunzelte über die typisch französische Leidenschaft in der Wortwahl und erwiderte auf Französisch: „Ja, habe ich, allerdings bin ich ein wenig enttäuscht, dass Sie mich sofort als Ausländerin erkannt haben.“ Sie war sehr begabt, was Sprachen anging, und in der Tat wirkte die Frau beeindruckt, als sie so fließend und akzentfrei antwortete.

„Woher kommen Sie?“, fragte sie, nun auf Französisch.

„Aus den Vereinigten Staaten. Zuletzt habe ich in Princeton, New Jersey, gewohnt, nicht weit von New York City. Ich heiße übrigens Sylvia. Sylvia Beach.“

Die Frau klatschte in die Hände und rief: „Aus den Vereinigten Staaten! Der Heimat von Benjamin Franklin! Er ist mein Lieblingsautor! Ich bin Adrienne Monnier.“

Sylvia lachte, als wäre es vollkommen logisch, dass diese hübsche junge Frau in den altmodischen Kleidern denselben Mann bewunderte, der auch ihr liebster Gründungsvater war. Sie war eindeutig eine Mademoiselle; an ihr war keine Spur von Madame. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Mademoiselle Monnier. Ihr Buchladen ist etwas ganz Besonderes. Und ich schätze Ben Franklin auch“, gab sie zu. „Aber haben Sie Hawthorne gelesen? Oder Thoreau? Was ist mit Moby-Dick? Das ist eins meiner Lieblingsbücher.“

Und schon waren sie mittendrin. Sylvia erfuhr, welche amerikanischen Autoren ins Französische übersetzt wurden und welche nicht, und wie schwer es selbst im kosmopolitischen Paris war, an englischsprachige Bücher heranzukommen. „Aber mein Englisch ist ohnehin nicht gut genug, um diese großartige Literatur in ihrer Muttersprache zu lesen“, sagte Adrienne bescheiden und senkte den Blick.

„Vielleicht noch nicht“, widersprach Sylvia, deren Herz sanft zu glühen begann. Zwischen ihnen war ein Funke übergesprungen, und das hatte nicht nur mit den Büchern zu tun, davon war sie überzeugt. Ihre Hände wurden plötzlich ganz feucht.

Da bist du, Adrienne“, sagte eine bezaubernde, melodiöse Stimme hinter Sylvia.

Sie wandte sich um und erblickte eine außergewöhnlich zierliche Frau mit üppigem rotblondem Haar, das zu einem Knoten hochgesteckt war. Sie trug ein ganz ähnliches Ensemble wie Adrienne, das an ihrem kleinen, schlanken Körper jedoch vollkommen anders wirkte. Ihre Finger waren lang und schmal und ständig in Bewegung, als führten sie ein Eigenleben. Doch als sie sich besitzergreifend auf Adriennes kürzere, fülligere Hand legten, wusste Sylvia sofort, dass die beiden Frauen ein Liebespaar waren.

Und sie hatte gedacht, sie und Adrienne würden flirten. Sie hatten bereits zum vertrauten tu gewechselt, statt vous.

Die Wärme und Bewunderung, mit der Adrienne diese Frau, die jetzt neben ihr stand, anlächelte, versetzte Sylvia einen Stich. Diese beiden Frauen besaßen etwas, in ihrem Leben und in dieser Buchhandlung – etwas, wonach sie lange gesucht hatte, ohne zu wissen, wie sehr sie sich danach sehnte, bis sie es vor sich sah. Würde sie es auch finden können? Und was genau war es überhaupt? Mit einem Mal fühlte Sylvia sich orientierungslos, aus dem Gleichgewicht gebracht von dem, was sie umgab: der Laden, die Frauen, die Bücher, das gedämpfte Gemurmel der anderen Kunden.

„Suzanne“, sagte Adrienne, „das ist unsere neue Freundin Sylvia Beach aus den Vereinigten Staaten. Sylvia, das ist Suzanne Bonnierre, meine Geschäftspartnerin.“

Mit übertrieben enthusiastischer Geste streckte Sylvia die Hand aus, und Suzanne nahm sie leicht amüsiert. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mademoiselle Beach.“

„Sylvia, bitte“, sagte sie. „Das ist wirklich eine wunderbare Buchhandlung. So gemütlich und einladend, und Sie führen nur die besten Autoren.“ Allerdings fragte sie sich, warum Suzannes Name nicht außen an der Fassade stand. Nun ja, Monnier & Bonnierre wäre, obwohl es gut klang, vielleicht etwas zu offensichtlich gewesen, auch wenn Paris in solchen Dingen recht liberal war. Neulich Abend hatte Cyprian Sylvia einen Hosenanzug und sich selbst ein perlenbesticktes Kleid verpasst, und dann waren sie, in knöchellange Mäntel gehüllt, mit der Metro zu einer neuen Bar in der Rue Edgar-Quinet gefahren, die nur von Frauen besucht wurde, von denen die Hälfte Monokel und Gamaschen trug. Von außen sah das Etablissement ganz normal aus, mit einer kleinen Markise, auf der schlicht „Bar“ geschrieben stand, aber die laute, aufgeheizte Atmosphäre im Innern war Sylvia unangenehm gewesen. Sie hatte sich bemüht, locker zu sein und es zu genießen, dass sie in einer Stadt lebte, in der so etwas möglich war und wo sie ganz offen zu ihren Neigungen stehen konnte; es war sogar gesetzlich gestattet, denn gleichgeschlechtliche Beziehungen waren im Zuge der Französischen Revolution legalisiert worden. Aber sie war sich vorgekommen wie ein Stück Obst auf einer Marktauslage. Die Leserin in ihr zog die Stille und Feinsinnigkeit von A. Monnier vor.

„Vielen Dank für das Kompliment“, erwiderte Suzanne. „Ich war noch nie in Ihrem Land, aber ich habe schon viel Großartiges darüber gehört und gelesen. Es ist sehr inspirierend für Frankreich.“

„Mein Land hat sicher viele Vorzüge, aber ich bin froh, hier zu sein“, sagte Sylvia und dachte an die Einschränkung der Pressefreiheit durch die Comstock- und Spionage-Gesetze, den langen und mühsamen Kampf für das Frauenwahlrecht und die abstruse Idee eines Alkoholverbots, die überall kursierte. Ihr schien, dass sich in Amerika immer mehr abseitige Ideen durchsetzten, während die guten, starken, die das Land in ein fortschrittliches neues Jahrhundert hätten führen können, dahinsiechten. 

„Wir sind auch froh, dass du hier bist.“ Adrienne lächelte ihr zu.

„Sie müssen heute Abend zu der Lesung kommen!“, rief Suzanne aus. „Unsere lieben Freunde Valery Larbaud und Léon-Paul Fargue werden dasein. Und Jules Romains. Kennen Sie diese Autoren?“

„Natürlich! Es wäre mir eine Ehre, sie persönlich kennenzulernen.“ Bei aller Freude zog sich Sylvia auch der Magen zusammen. Jules Romains? Vraiment? Was konnte sie ihm schon zu sagen haben?

„Kommen Sie um acht wieder. Wir kümmern uns nicht mehr um die Luftangriffe.“

 

(...)

 

Als es endlich Zeit war, wieder in die Rue de l’Odéon zurückzukehren, lief Sylvia eine halbe Stunde lang auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Théâtre de l’Odéon auf und ab, rauchte eine Zigarette nach der anderen und zermarterte sich das Hirn, worüber sie sich mit den berühmten Schriftstellern unterhalten könnte; dann beschloss sie, dass das albern war, und marschierte zu Adriennes Buchladen.

Im sommerlichen Dämmerlicht schimmerten die Lampen sanft. Adrienne und Suzanne gingen im Raum umher, füllten Gläser, berührten Schultern, lösten Gelächter aus. Vor allem Adrienne war gefragt und wanderte von Grüppchen zu Grüppchen wie eine Hestia der Bücher. Sie war gerade mit ein paar Gästen in ein ernstes Gespräch vertieft, als Suzanne Sylvia an der Hand nahm und sie Valery Larbaud und Jules Romains vorstellte. Beide Männer begrüßten sie mit Wangenküssen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. „Monnier hat uns schon alles über Sie erzählt“, sagte Romains. „Dass Sie gerne lesen und die amerikanischen Transzendentalisten mögen. Vielleicht wäre Baudelaire auch etwas für Sie, aus derselben Zeit hier in Frankreich?“

„Oh, natürlich. Die Fleurs du Mal waren auf beiden Seiten des Atlantiks sehr wichtig“, erwiderte sie und genoss sein erfreutes Interesse. Sie plauderten eine Weile über die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, dann wanderte das Gespräch von neueren Romanen und Gedichten über den Krieg, der kein Ende nehmen wollte, zu den Aussichten für die Literatur in Frankreich.

Na, vielleicht war das viele Lesen ja doch nicht umsonst.

Eine Hand, die sie leicht am Ellbogen berührte, ließ Sylvia zusammenzucken, sodass ein wenig Wein aus ihrem Glas schwappte. Adrienne. Sylvia wandte sich von Larbaud und Romains zu ihrer Gastgeberin, die lächelte und sie ebenfalls auf beide Wangen küsste. Sylvia erwiderte die Begrüßung, wenn auch mit übertrieben gespitzten Lippen.

„Amüsierst du dich gut?“, fragte Adrienne, wartete jedoch Sylvias Antwort nicht ab, sondern sah die beiden Männer streng an. „Ich hoffe, ihr habt unsere neue amerikanische Freundin nett empfangen?“

„Sehr nett“, beeilte Sylvia sich zu sagen.

„Und wie so oft, Monnier“, sagte Larbaud, „hast du dieser Fülle einen neuen Schatz hinzugefügt.“

Sie konnte kaum glauben, dass er von ihr sprach. Und dass sie noch vor einer Stunde so nervös gewesen war. Sylvia fühlte sich so zu Hause, als würde sie schon ihr Leben lang hier ein und aus gehen. Und zugleich war es ein aufregendes neues Abenteuer, ein Sprung ins Ungewisse.

„Nicht rot werden, Sylvia!“ Adrienne lachte. „Ich wusste vom ersten Moment an, dass du ein Schatz bist.“

„Nun ja, meine Schwester ist Schauspielerin, deshalb bin ich eher daran gewöhnt, dass sie der Schatz ist.“

„Schauspielerin?“ Romains zog die Augenbraue hoch. „Irgendetwas, das wir vielleicht gesehen haben?“

Judex. Das ist eine Filmserie.“

Die beiden Männer lachten schallend, und der Wein, den sie getrunken hatten, färbte ihre Wangen rot.

„Beachte sie gar nicht“, sagte Adrienne und tätschelte scherzhaft Romains’ Arm. „Die beiden sind schreckliche Snobs. Ich liebe das Kino und auch einige der Serien. Judex kenne ich nicht. Vielleicht sollten wir mal zusammen hingehen?“

Da war es wieder. Dieses frisson. Warum hatten die Franzosen die besten Wörter für alles, was mit Anziehung zu tun hatte?

„Sehr gerne. Cyprian würde sich riesig freuen.“

„Suzanne gefällt es bestimmt auch.“

Suzanne. Wie konnte ich sie vergessen?

Und schon tauchte sie auf, gab Adrienne einen leichten, aber innigen Kuss auf die Wange und schenkte den beiden Männern ein herzliches, vertrautes Lächeln – ein Signal an Sylvia, dass sie die Neue, die Außenseiterin war und dass trotz des liebenswürdigen Empfangs nichts von alldem ihr gehörte.