Rachel Elliott: Flamingo


Von seiner Verlobten verlassen und von seinem Vermieter grund- und fristlos gekündigt, steht Daniel Berry eines Morgens buchstäblich auf der Straße; das einzige Überbleibsel seines eben noch intakten Lebens ist ein kleines Keramikschaf. Die plötzliche Heimatlosigkeit lässt Daniel in ein bodenloses Loch fallen - bis die zufällige Begegnung mit einer Fremden ein Bild in ihm wachruft: von drei rosafarbenen Flamingos auf einem grünen Vorstadtrasen in Norfolk.

Im Haus hinter dem Rasen lebt Sherry Marsh, die gern laut und schräg Foreigner-Songs zum Besten gibt und deren Tochter Rae im Kino nur die Gesellschaft Fremder erträgt. Doch für Daniel birgt das Haus der Marshs vor allem eins: das Gefühl, einmal glücklich gewesen zu sein und es vielleicht wieder werden zu können, wenn er sich nur traut, dorthin aufzubrechen.

Roman

Mare (2023)

Originaltitel: Flamingo

ISBN 978-3-86648-703-1

EUR 24,00




Leseprobe

Daniel – Somerset, England – Mai 2018

 

Er sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden der Stadtbibliothek, Abteilung Kochbücher; seine Hände umklammern ein Buch mit alten Rezepten, seine Tränen tropfen den Morsecode seiner Verlassenheit auf den ausgeblichenen Umschlag.

Er ist sanfter Regen.

Er ist ein schmutziges T-Shirt.

Er ist zwei Nächte auf einer Bank, eine Nacht in einem Hauseingang, zwei Nächte unter einem Baum, nach vielen Jahren Matratze und Bettzeug.

Das Buch in seinen Händen heißt einfach Obst. Es ist hart und schwer, ein Buch zum Benutzen und Weitergeben, unverwüstlich. Auf dem Umschlag ist ein Stillleben abgebildet: ein Tisch mit Decke, ein Tonkrug, ein Teller mit Äpfeln und Birnen.

Einen Moment lang kommt er sich vor wie ein Junge, der mit einer Bibel in der Hand in der Kirche sitzt.

Er ist noch nie in der Kirche gewesen.

Und sein eigener Küchentisch, sein Krug und seine Teller, wo sind die jetzt?

 

An diesem Morgen ist es ruhig in der Bibliothek. Stiller, papierner Zeitlupenraum.

Es ist niemand in der Nähe, doch Daniel Berry ist nicht allein. Die Körper dieser Bücher haben breite Rücken und buttrige Fingerabdrücke. Man kann schlechtere Gesellschaft haben als Köche und berühmte Küchenchefs, und er stellt sich vor, wie sie mit ihren Gaben vor ihm stehen: ein Becher starker Kaffee, Schalen mit Brühe und Nudeln, Brot und Flapjacks frisch aus dem Ofen.

Er schließt die Augen, aber das macht ihm Angst, und so öffnet er sie wieder.

Ihm ist, als wäre er im Schlafanzug draußen.

Manchmal kann man nichts anderes tun, als vollkommen stillzuhalten.

Er erinnert sich daran, wie er letztes Jahr vom Fahrrad gestürzt ist, wie er lange auf der Straße lag und sich nicht zu rühren wagte, voller Angst, dass es ihn schlimm erwischt haben könnte. Nach einer Weile fand er es fast angenehm, in den Himmel zu blicken und aus seiner Schockblase den Wolken zuzusehen.

Seine Reglosigkeit jetzt ist ganz ähnlich.

Komisch, was die Gedanken so machen. Wie sie von Küchenchefs zu Flapjacks, Schlafanzügen, Fahrradstürzen und Wolkengucken springen, ohne dass er auch nur einen Muskel bewegt.

Und er ist nicht tot. Das ist sein nächster Gedanke. Er ist nicht der Tote in der Bibliothek wie bei Agatha Christie.

Immerhin etwas, Daniel.

Nein, er ist ein warmer, lebender, feuchter Körper in einer öffentlichen Bibliothek. Er hat seinen nassen Sumpf hier reingeschleppt, und niemand hat ihn daran gehindert.

 

Als Junge war er oft in der Bibliothek. Manchmal kam seine Mutter mit, aber meistens setzte sie ihn dort ab, wenn sie Besorgungen machte – das war die Geschichte, die sie immer erzählte, eine Geschichte von Rechnungen, die bezahlt, Briefe, die zur Post gebracht, und Sachen, die auf dem Markt gekauft werden mussten. Wenn sie ihn auf dem Rückweg wieder abholte, war er der stolze Kurzzeitbesitzer eines Bücherstapels und hatte die Möglichkeit, seine Stunden zu füllen und der Rotte von Jungs aus dem Weg zu gehen, die Neuankömmlinge nicht mochten. Er hatte Angst vor diesen stämmigen Jungen, aber sie faszinierten ihn auch. Wie sie stundenlang auf einer Mauer sitzen konnten, träge und lässig und kurzärmelig in der Sonne. Bei ihnen sah das Zeitvertreiben einfach aus. Und das Jungesein auch.

Gerade wenn sie anfingen, ihm mit Freundlichkeit statt Misstrauen zu begegnen, ihm sogar ab und zu ein Wie geht’s, Dan zuriefen, wenn er vorbeiging, war es wieder an der Zeit, weiterzuziehen.

Gibt es dort auch eine Bibliothek?, fragte er dann seine Mum.

Und Eve Berry antwortete: Ja, keine Sorge, ich habe mich erkundigt, da gibt es auf jeden Fall eine Bibliothek.

Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? Wenn sie ihn jetzt riechen könnte?

Hauptsächlich riecht er nach Angst.

Er streckt die Hand aus und streicht über zwei Buchrücken, als wären sie ein Holzobjekt, das er gerade fertig geschliffen hat, gute Arbeit, glatt und sauber und ganz real.

Das hilft immerhin ein wenig, er kann es fühlen.

Er lauscht auf die Geräusche um ihn herum, versucht, etwas anderes wahrzunehmen als seine Gedanken.

Achtung, Sicherheitswarnung an alle Bibliotheksbesucher an diesem Morgen: Passen Sie auf, dass Sie nicht über den armseligen Kerl auf dem Fußboden in der Kochbuchabteilung stolpern oder in seine Kummerpfütze treten. Wir bemühen uns, den Schlamassel so schnell wie möglich zu beseitigen.

Wie hartnäckig der menschliche Geist sich gegen sich selbst wendet. Als Spezies halten wir uns für so hochentwickelt und überlegen, doch in der Höhle unserer Gedanken dreschen wir alle mit Knüppeln auf uns ein.

Wieder kommen Tränen.

Er ist ein leerer Magen.

Er ist der Drang zu stehlen.

Er ist der nervöse Tick eines Jungen, ein Zucken der Nase, das längst verschwunden sein sollte.

Entschuldigen Sie, sagt eine Stimme.

Daniel sieht auf.

Neben ihm steht eine Frau. Sie geht in die Hocke, legt ihre Hand auf seine Schulter.

Ich will Ihnen nur sagen: Was auch immer Ihnen gerade Kummer bereitet, es wird nicht ewig andauern.

Er blickt sie nur mit offenem Mund an.

Vertrauen Sie mir, sagt sie.

 

Und das Gewicht ihrer Hand auf seiner Schulter.

Er wird es durch diese schmutzigen Kleider spüren.

Er wird es durch einen Schlafanzug spüren.

Er wird es durch ein sauberes T-Shirt, einen weichen Pullover spüren.

Er wird es durch alle Jahreszeiten spüren, während sie sich um ihn herum offenbaren, im Himmel und auf der Erde, in Blüte und Geburt, in Überwinterung und Erwachen, in der Luft, in Schnee und Sonnenlicht, in Beständigkeit und Vergehen, in Leuchten und Verblassen, in den vielen Gestalten eines alten Baums, in allem, was lebt.

 

Mit der Zeit verändert sich die Geschichte.

Manchmal ist sie in seiner Vorstellung gar keine Frau.

Sie ist eine stille Wasserfläche.

Sie ist ein kurzes Aufblitzen von Farbe.

Wie ein Eisvogel, da und schon wieder weg, den niemand außer ihm gesehen hat.