Clarisse Sabard: Das Licht unserer Tage


Julias Mutter hatte einen letzten Wunsch, bevor sie starb: Sie soll sich mit ihrem Vater versöhnen. Also reist Julia widerwillig von Paris in die Touraine. Ihr Vater ist mürrisch wie immer, aber ihre Großmutter hat eine Aufgabe für sie: die alte Familienkonditorei wiedereröffnen und mit neuem Leben füllen. Julia hat eigentlich nicht vor, dauerhaft in die Touraine zu ziehen, wo sie ständig ihrem Exfreund begegnen würde. Doch als sie im Haus ihrer Großmutter Spuren ihrer Vorfahrin Eugénie findet, die vor über hundert Jahren aus rätselhaften Gründen das Dorf verließ, ist nichts mehr, wie es schien ...

 

Roman

Insel (2023)

Originaltitel: A la lumière de nos jours (Übs. mit Sabine Schwenk)

ISBN 978-3-458-68273-8

EUR 18,00




Leseprobe

Julia, 2013

 

„Wie schön, dass du gekommen bist!“

Strahlend umarmte mich Aurélie, als hätten wir uns ein halbes Jahr nicht gesehen. Ich brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Zum Glück hatte sie offenbar niemanden außer mir eingeladen.

„Ehrlich gesagt bin ich froh, dass wir nur zu zweit sind“, gestand ich ihr, nachdem der Kellner unsere Bestellung aufgenommen hatte.

Mir war überhaupt nicht danach, meinen Geburtstag zu feiern, aber Aurélie freute sich so, dass mir meine Bemerkung sofort leidtat.

„Entschuldige, ich wollte nicht die Stimmung verderben.“

Sie legte sanft die Speisekarte aus der Hand.

„Schon gut“, sagte sie. „Ich kann mir denken, dass es nicht leicht für dich ist.“

Unsere Cocktails kamen. Ein Aperol Spritz für mich und ein alkoholfreier für meine Freundin, die im siebten Monat schwanger war. Sie erhob ihr Glas, um mit mir anzustoßen.

„Auf deinen Vierunddreißigsten! Ich bin sicher, du wirst diese schwere Zeit gut überstehen.“

„Danke“, erwiderte ich. „Es ist schon eine seltsame Vorstellung – mein erster Geburtstag ohne sie.“

„Immerhin kapselst du dich nicht völlig ab. Es ist wichtig, darüber zu sprechen und nach vorne zu schauen.“

Doch an diesem Abend hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, nach vorne zu schauen. Obwohl ich so liebe Menschen um mich hatte, fühlte ich mich schrecklich einsam.

„Ich will dich nicht noch mehr runterziehen, aber im Moment kommt es mir eher so vor, als würde ich in der Luft hängen, ohne irgendeinen festen Halt.“

„Das Leben hat dich in den letzten Monaten ganz schön durchgerüttelt. Aber ich bin sicher, dass die fröhliche Julia, die ich kenne, wieder die Oberhand gewinnt.“

Das hoffte ich auch. Nur dass ich die Bedienungsanleitung verloren hatte. Ich tastete mich blindlings vor, kämpfte mich durch trübes Wasser. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, und das war schwer auszuhalten. Innerhalb von sechs Wochen hatte ich meine Arbeit und meine Mutter verloren – meinen Lebensinhalt im Dezember, meinen Hafen im Februar –, und ich fühlte mich vollkommen verloren.

„Das wird schon wieder“, sagte Aurélie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

„Danke.“ Nur mit Mühe unterdrückte ich die Tränen, und während des Essens lenkte ich das Gespräch auf ihre Schwangerschaft. Aurélie plauderte munter drauflos, und normalerweise war ihre gute Laune ansteckend, doch ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Am Nachmittag hatte mich der Notar meiner Mutter gebeten, in seine Kanzlei zu kommen, und ich war mit einem Knoten im Bauch dorthin gegangen, überzeugt, dass damit das Kapitel endgültig abgeschlossen, aber auch der Schmerz erneut wachgerufen werden würde. Stattdessen hatte mich eine Überraschung erwartet.

Maman ... Was hast du da bloß ausgeheckt?

Es war jetzt vier Monate her, dass sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Ihr Tod war umso schmerzlicher gewesen, weil alles so schnell gegangen war. Als die Ärzte bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt hatten, schwebte bereits der Schatten des Todes über ihr. Maman hatte mit aller Kraft dagegen angekämpft, aber es war zu spät gewesen. Innerhalb weniger Wochen hatte der Krebs sie mit sich in einen tiefen, dunklen Ozean gezogen und mich hilflos wie ein kleines Kind zurückgelassen. Trotz aller eindeutigen Erklärungen der Ärzte hatte ich mich geweigert, die Möglichkeit ihres Todes in Betracht zu ziehen. Für mich war es einfach unmöglich – eine einstige Rettungssanitäterin konnte sich doch nicht vom Krebs besiegen lassen. Ihre Aufgabe bestand darin, anderen das Leben zu retten, nicht, ihr eigenes zu verlieren. Ihr Tod war ein furchtbarer Schock gewesen.

„Huhu, bist du noch da?“

Aurélie schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern und riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte kein Wort von dem mitbekommen, was sie mir erzählt hatte ... Sie gab sich Mühe, mich abzulenken, und so dankte ich es ihr!

„Entschuldige, ich war nicht bei der Sache.“

„Das habe ich gemerkt!“, schnaubte sie. „Es geht um den Namen. Ich finde, als künftige Patentante hast du da ein Mitspracherecht. Romain steht auf klassische Namen wie Gustave oder Jeanne. Ich hingegen hätte lieber –“

„Etwas japanisch Angehauchtes?“, riet ich.

Aurélie hegte eine grenzenlose Leidenschaft für alles, was mit dem Land der aufgehenden Sonne zusammenhing, wo sie am Ende unserer Studienzeit ein Jahr verbracht hatte.

„Ich wusste, du würdest mich verstehen!“, rief sie triumphierend. „Aber das ist jetzt nicht so wichtig ... Du machst wieder diese komische Sache mit deinem Mund, also sag mir, was dich beschäftigt.“

„Was? Ich mache doch gar nichts!“

„Doch. Du kaust auf deiner Unterlippe herum, wie jedes Mal, wenn du nervös bist. Und daraus schließe ich, dass es noch um etwas anderes geht als deinen ersten Geburtstag ohne deine Mutter. Jetzt erzähl schon.“

Ihre Freundlichkeit schnürte mir die Kehle zu. Aurélie kannte mich nicht nur in- und auswendig, sie verübelte mir mein Verhalten auch nicht. Dass ihr Baby bald kommen würde, war mir keineswegs gleichgültig, im Gegenteil, ich freute mich sogar darauf, Patentante zu werden. Aber an diesem Abend beschäftigte mich etwas anderes, und sie verdiente es, dass ich ihr wenigstens erklärte, warum ich mich nicht auf unser Gespräch konzentrieren konnte.

„Ich war vorhin beim Notar.“

„Die Wohnung ist also verkauft?“

„Nein ... Beziehungsweise sie wird sicher bald verkauft, denn er hat ein Angebot bekommen.“

Aurélie runzelte die Stirn. „Okay, aber was wollte er dann von dir?“

„Maman hatte ihn gebeten, mir einen Brief zu geben. Und zwar heute.“

Voller Mitgefühl beugte sie sich vor. „O Julia, ich verstehe, dass du durcheinander bist! Hast du ihn gelesen?“

Ich wich ihrem Blick aus. „Nein ... noch nicht.“

„Was?“ Aurélie starrte mich überrascht an. „Wo ist denn deine sonst so zügellose Neugier geblieben? Womöglich steht da drin, dass sie eine Million Euro in einer Höhle auf Belle-Île-en-Mer versteckt hat!“

Ihre Reaktion brachte mich immerhin zum Lächeln. „Ich weiß nicht ... Ich will keine Wunde aufreißen, die kaum vernarbt ist.“

Bisweilen überkamen mich immer noch Wellen von Fassungslosigkeit und Zorn, wenn ich daran dachte, dass Maman für immer achtundsechzig bleiben würde. Es war so ungerecht, dass sie auf diese Weise gehen musste, obwohl ihr bei der heutigen Lebenserwartung noch etliche Jahre zugestanden hätten! Aurélie sah, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und legte ihre Hand auf meine.

„Es ist doch ganz normal, dass du traurig bist, Julia. Frédérique war eine wunderbare Frau“, sagte sie voller Wärme. „Aber sie hätte nicht gewollt, dass du so leidest.“

Ich trank ein Glas Wasser, um meine Gefühle in den Griff zu kriegen.

„Ich weiß ... Aber ich habe einfach Schiss davor, ihre letzten Worte zu lesen. Sie hat sich nach meinem beruflichen Desaster große Sorgen gemacht. Was ist, wenn darin lauter Vorwürfe stehen?“

Irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass meine Mutter ohne diese zusätzliche Belastung die Krankheit vielleicht besiegt hätte. Und deswegen hatte ich Schuldgefühle.

„Ein Grund mehr, ihn zu lesen!“, gab Aurélie zurück. „Dann weißt du wenigstens, woran du bist. Hast du ihn dabei?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihn absichtlich zu Hause gelassen, weil ich sonst womöglich den ganzen Abend mit dem Umschlag in der Hand in der Restauranttoilette gehockt und überlegt hätte, ob ich ihn nun öffnen soll oder nicht.

„Nun ja“, sagte Aurélie nach einer kurzen Pause, „vielleicht ist es auch besser, wenn du das in Ruhe und allein tust. Und wenn du reden willst, kannst du mich jederzeit anrufen.“

Ein wenig aufgemuntert nickte ich. Der Kellner brachte uns den Nachtisch. Als er gegangen war, gab Aurélie mir mein Geburtstagsgeschenk, einen Gutschein für einen gemeinsamen Tag im Spa, einzulösen nach der Geburt.

„Ich dachte mir, das tut uns beiden gut“, erklärte sie, als ich mich bei ihr bedankte. „Zum Beispiel wenn ich nach zwei schlaflosen Monaten auf dem Zahnfleisch gehe.“

„Unsinn!“, zog ich sie auf. „Du wirst so hin und weg von deinem Baby sein, dass ich dich mit Gewalt von ihm loseisen muss, um dich in das Spa zu kriegen.“

 Aurélie lachte und kostete dann ihren Moelleux au Chocolat.

„Mmh, der ist gut, aber mir fehlen deine Leckereien“, sagte sie. „Dabei hatte ich mich darauf verlassen, dass du für ein paar von meinen Schwangerschaftskilos sorgst.“

Die Patisserie war schon immer eine große Leidenschaft von mir gewesen. Doch leider hatte sie mich anscheinend ohne Vorwarnung im Stich gelassen.

„Ich habe schon seit Monaten nichts mehr gebacken“, murmelte ich. „Ich kann es nicht mehr.“

„Ehrlich gesagt hätte ich mir Gedanken um deine geistige Gesundheit gemacht, wenn du nach allem, was passiert ist, wie eine Besessene Kuchen produziert hättest. Warum gehst du nicht erst mal zur Bank zurück? Ich bin sicher, dass sie dich wieder einstellen würden.“

Autsch. Das dornige Thema, das ich um jeden Preis vermeiden wollte.

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach ich ihr, während ich dem Kellner ein Zeichen gab, dass er uns die Rechnung bringen sollte.

Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Es wäre vernünftig, ihren Rat zu befolgen, aber ich hatte keine Lust auf das herablassende Mitgefühl meiner früheren Kollegen und erst recht nicht auf das Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Auf diese Weise zurückzukehren, nachdem ich alles hingeschmissen hatte, überstieg meine Kraft. Aber einen Plan B hatte ich auch nicht, also würde mir wohl nichts anderes übrigbleiben.

Nach dem Essen ging ich mit dem quälenden Gefühl nach Hause, eine Versagerin zu sein. Wenn ich vor zwei Jahren, als ich eingewilligt hatte, für einen großen Fernsehsender zu arbeiten, geahnt hätte, was für ein Abgrund sich unter mir auftun würde, hätte ich es mir zweimal überlegt. Aber ich war ja so geschmeichelt gewesen, weil sie wegen meines erfolgreichen YouTube-Kanals auf mich zugekommen waren! Tagsüber Anlageberaterin bei der Bank, war ich abends meiner Leidenschaft für die Patisserie nachgegangen und hatte regelmäßig Rezepte gepostet, die lecker, ästhetisch ansprechend und gleichzeitig für jeden nachvollziehbar waren. Im Handumdrehen hatte ich Tausende von Followern, und von allen Seiten wurde ich mit Anfragen überschüttet. Die Produktionsfirma, die mich kontaktiert hatte, suchte damals jemanden wie mich für eine neue Sendung. Es ging darum, zusammen mit dem großen Willy Dolenc, der durch seine französischen Patisserien, die er in London eröffnet hatte, berühmt geworden war, die Kreationen von Amateuren zu beurteilen. Der Gewinner bekam eine ansehnliche Geldsumme, um sich damit selbstständig zu machen, es lohnte sich also. Mir wiederum hatten sie für zwölf Folgen zur besten Sendezeit eine überaus großzügige Gage angeboten. Es war der perfekte nächste Schritt, ein wahrgewordener Traum. Bis sie mich vor die Tür gesetzt hatten. Und zwei Wochen später hatte ich erfahren, dass meine Mutter krank war ...