Es ist das Ende des 19. Jahrhunderts und nichts fasziniert die Menschen so sehr wie die geheimnisvollen und angsteinflößenden Wunder des Ödlands. Nichts berührt diese riesige, verlassene Wildnis zwischen China und Russland, außer dem Transsibirien-Express, der jeden befördert, der es wagt, das Ödland zu durchqueren. Es gibt jedoch Gerüchte, dass der Zug nicht mehr sicher ist. Wer sich nun auf diese Reise begibt, hat seine ganz eigenen, verborgenen Gründe dafür: eine trauernde Frau mit fremdem Namen, ein Kind, das im Zug geboren wurde, und ein in Ungnade gefallener Naturforscher. doch mehr und mehr scheint es, als würden die Gefahren des Ödlands ihren Weg ins Innere finden ...
Roman
C. Bertelsmann (2024)
Originaltitel: The Cautious Traveller's Guide to the Wasteland
ISBN 978-3-570-10500-9
EUR 24,00
Leseprobe
Die Lügnerin
Peking, 1899
Auf dem Bahnsteig steht eine Frau mit geborgtem Namen. Mit Dampf in den Augen und dem Geschmack von Öl auf den Lippen. Das schrille, drängende Pfeifen des Zuges verwandelt sich in das Weinen eines kleinen Mädchens ein Stück weiter und die Rufe der Bauchladenverkäufer, die billige Amulette als Schutz gegen das Ödlandweh anpreisen. Sie zwingt sich, den Kopf zu heben und ihn anzusehen, den Zug, der zischend und brummend vor ihr aufragt, vibrierend vor kaum zu bändigender Kraft. Wie riesig er ist, wie mächtig und massiv, dreimal so breit wie eine Pferdekutsche. Daneben wirkt der Bahnhof wie ein Kinderspielzeug.
Sie konzentriert sich auf ihren Atem, versucht, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Ein und wieder aus, ein und wieder aus. Das hat sie die letzten sechs Monate jeden einzelnen langen Tag geübt, während sie zu Hause am Fenster gesessen und den Händlern und Taschendieben unten auf der Straße zugesehen hat; sie hat alles über sich hinwegspülen lassen, bis ihr Geist klar wie Wasser war. Sie hält sich am Bild eines Flusses fest, ruhig fließend und grau, versucht, sich von ihm in Sicherheit tragen zu lassen.
„Maria Petrowna?“
Es dauert einen Moment, bis sie merkt, dass der Porter sie meint, und sie fährt erschrocken zu ihm herum. „Ja! Ja.“ Sie versucht, ihre Verwirrung zu kaschieren. Zu fremd ist noch der Klang ihres neuen Namens.
„Ihr Abteil ist bereit, und Ihr Gepäck wurde schon hineingebracht.“ Schweiß perlt auf seiner Stirn und hinterlässt einen feuchten, dunklen Rand an seinem Kragen.
„Danke.“ Sie ist froh, dass ihre Stimme nicht zittert. Maria Petrowna ist furchtlos. Neu geboren. Sie kann nur vorwärts gehen, dem Porter folgen, der in einer Dampfwolke verschwindet. Hier und da ist in dem Gewaber grüner Lack zu sehen und ein goldener Schriftzug auf Englisch, Russisch und Chinesisch: Transsibirien-Express. Peking – Moskau, Moskau – Peking. Sie müssen die ganzen letzten Monate lackiert und poliert haben. Alles glänzt.
„Da wären wir.“ Der Porter wendet sich ihr zu, wischt sich über die Stirn und hinterlässt einen dunklen, öligen Fleck. Sie fühlt sich unbehaglich in ihrer Kleidung, die in der Hitze auf ihrer Haut scheuert. Die schwarze Seide saugt die Sonne förmlich auf. Die Bluse umschlingt ihren Hals, und der Rock schnürt ihr die Taille ein, aber ihr bleibt keine Zeit, sich um ihr Aussehen zu sorgen, denn der Porter reicht ihr steif den Arm, und sie erklimmt die hohen Stufen in den Zug, wo ein anderer uniformierter Mann mit einer Verbeugung ihre Hand nimmt und sie durch den mit einem dicken Teppich ausgelegten Korridor führt. Sie ist im Zug, und nun ist es zu spät zum Umkehren.
Vor ihr beugt sich ein Mann mit Bart, goldener Brille und einer Stimme von der Art, die alle anderen Stimmen beiseite drängt, aus dem Fenster und ruft auf Englisch: „Wo ist der Stationsvorsteher? Vorsicht mit den Kisten! Oh, ich bitte um Verzeihung.“ Er drückt sich an das Fenster und deutet eine Verbeugung an, als Maria sich ihm nähert. Sie beschränkt sich auf ein angedeutetes Lächeln und eine leichte Neigung des Kopfes und überlässt ihn seinem Getöne. Sie hat keine Lust auf den Austausch von Höflichkeiten und auf die neugierigen, taxierenden Blicke der Männer, die bereits ihre Trauerkleidung und die Tatsache, dass sie allein reist, zur Kenntnis nehmen. Sollen sie. Sie will nichts weiter, als die Tür ihres Abteils hinter sich zu schließen, die Vorhänge zuzuziehen und sich in die wohltuende Stille sinken zu lassen.
Doch noch lässt man sie nicht.
„Nun lassen Sie doch das Theater, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.“ Vom anderen Ende des Wagens kommt eine ältere Dame in einem dunkelblauen Seidenkleid auf sie zu, gefolgt von ihrem Dienstmädchen. „Ist das hier wirklich die Erste Klasse?“ Sie sieht erst Maria an, dann die Abteiltür neben ihr. „Es hieß, dieser Zug sei das Beste, was man für Geld kaufen könne, aber ehrlich gesagt habe ich da meine Zweifel ...“
Den vertrauten Klang des wohlhabenden Sankt Petersburg zu hören, Tausende Kilometer entfernt von seinen breiten Straßen und prächtigen Häusern, weckt in Maria schmerzliches Heimweh.
„Ihr Abteil, Madam“, sagt der Steward mit einer Verneigung zu Maria, blickt dabei aber nervös zu der älteren Dame, die fragt: „Reisen Sie allein?“ und dabei ihr Mädchen wegscheucht, das ihr einen weiteren Schal um die Schultern legen will.
Maria sieht die Mischung aus Mitleid und Missbilligung in ihrer Miene und errötet.
„Mein Dienstmädchen konnte mich leider nicht begleiten. Es war zu viel für ihre Nerven.“
„Na, gut, dass unsere Nerven robuster sind. Meine hasenfüßigen Neffen haben monatelang versucht, mich mit allerlei Schauergeschichten von dieser Reise abzubringen, aber damit haben sie sich selbst mehr Angst eingejagt als mir.“ Sie lächelt unerwartet und tätschelt Marias Hand. „So, wo ist denn nun mein Abteil? Wenn Vera mich nicht umgehend mit einer Tasse Tee in einen Sessel verfrachten kann, verliert sie womöglich die Fassung.“
„Gleich hier, Gräfin.“ Der Steward verneigt sich sehr viel tiefer und deutet mit schwungvoller Geste auf das Abteil nebenan. Das Mädchen – Vera – öffnet vorsichtig die Tür, als fürchte sie sich vor dem, was sie darin erwartet.
„Ah! Dann sind wir also Nachbarinnen“, sagt die Gräfin.
Maria macht einen Knicks.
„Oh, lassen Sie nur. Ich heiße Anna Michailowna Sorokina. Und wie darf ich Sie nennen?“
Ein Stolpern in ihrem Atem, ein Gefühl, als hätte sie eine Stufe übersehen, doch die Gräfin scheint es nicht zu bemerken. „Ich heiße Maria Petrowna Markowa“, antwortet sie.
„Nun, Maria Petrowna, ich freue mich darauf, Sie näher kennenzulernen. Wir werden dafür ja reichlich Zeit haben.“ Und damit lässt die Gräfin sich von ihrem Mädchen, das Maria verstohlen gemustert hat, in ihr Abteil führen.
„Brauchen Sie noch etwas?“ Der Steward leckt sich über die Lippen und schluckt. Er hat Angst, denkt Maria, und überraschenderweise gibt ihr das neuen Mut.
„Nein“, erwidert sie mit fester Stimme. „Vielen Dank.“
Ihr Gepäck ist ordentlich auf der Ablage über dem Bett verstaut, das tagsüber zu einem Sofa umgebaut ist, mit üppigen Kissen darauf. Alles sieht neu aus. Die Kompanie muss eine Menge Geld hineingesteckt haben und trägt ihre Zuversicht in den Goldstickereien auf den Kissen, den blank polierten Messingbeschlägen und dem weichen dunkelblauen Teppich unter ihren Füßen zur Schau. Überall ist das Emblem der Transsibirien-Kompanie zu sehen: auf der Blumenvase, den Lampen und dem Teegeschirr auf dem kleinen Tisch am Fenster. Ihr Handkoffer liegt auf dem Sessel daneben. Das Fenster ist von Vorhängen aus blauem Samt umrahmt. Außen vor der Scheibe sind zwei dicke Eisenstäbe angebracht. Sie starrt einen Moment darauf, dann geht sie zu der Wand aus schimmerndem Mahagoni, in die zwei Türen eingelassen sind. Hinter der einen befindet sich ein Schrank, in den bereits jemand ihre Kleider und ihren Schal gehängt hat. Die andere verbirgt eine Nische mit einem kleinen Waschbecken aus weißem Porzellan, glänzenden silbernen Wasserhähnen, einer Ablage mit einer Haarbürste und kleinen Cremetiegeln aus Paris und einem silbergerahmten Spiegel.
Als Kind war sie fasziniert von dem alten vergoldeten Spiegel im Schlafzimmer ihrer Mutter. In der wolkigen Beschichtung sah sie aus wie ein Geist, der aus der Unterwelt oder aus einem See aufgestiegen war. Sie genoss die Vorstellung, für eine Weile jemand anders zu sein, bis ihre Mutter sie zum Tee mit ihrer Großmutter rief oder ihr Vater sie mit Rechenaufgaben piesackte. Sie hatte angenommen, wenn sie älter wäre, würde sie selbstsicherer sein und wissen, was sie wollte. Aber was will diese neue Maria nun?
Sie schließt die Tür, will sich nicht im Spiegel ansehen. Aus ihrem Handkoffer nimmt sie ein zerlesenes Buch; der Einband ist abgewetzt, die Seiten voller Knicke. Sie kennt jedes Wort, könnte jede der Illustrationen aus dem Gedächtnis nachzeichnen, doch es dabeizuhaben, anfassen zu können, hat etwas Tröstliches. Es ist Valentin Rostows Handbuch für das Ödland, die Ausgabe ihres Vaters. Früher hat sie oft heimlich darin gelesen, von dem Zug und der Welt vor seinen Fenstern geträumt und sich vorgestellt, sie würde selbst damit reisen. Aber nicht so. Nicht alleine. Mit einem Mal überkommt sie ein schmerzliches Gefühl der Einsamkeit. Der Zug ist noch nicht einmal losgefahren, und sie hat schon gegen Rostows ersten Rat verstoßen: Vor allem unternehmen Sie diese Reise nicht, wenn Sie nicht über ein ausgeglichenes Gemüt verfügen.
Draußen auf dem Bahnsteig geleiten Porter und Stewards die letzten Spätankömmlinge an Bord und weisen tränenäugige Verwandte zurück hinter die Schranken. Mechaniker mit ölverschmierten Gesichtern gehen den Zug prüfend ab. Der Stationsvorsteher hält mühsam einen Haufen Männer mit Notizbüchern zurück. Plötzlich blitzt ein helles Licht auf, und sie sieht einen Mann unter dem schwarzen Tuch seiner Fotokamera hervorkommen. Morgen früh wird es in allen Zeitungen stehen; eine Reise, die schon eine Geschichte ist, bevor sie begonnen hat.
Wiederholtes lautes Knallen verrät, dass die Türen geschlossen und die Eisenriegel vorgelegt werden. Sie konzentriert sich auf ihren Atem, ein und wieder aus, ein und wieder aus. Nichts von draußen kann hereinkommen, nichts von drinnen kann uns etwas anhaben. Sie beißt sich auf die Lippe und schmeckt Blut. Eisen, um uns zu schützen. Der Bahnsteig ist jetzt leer, bis auf die schmale Gestalt des Stationsvorstehers. Sie sieht, wie er die Fahne hebt und auf die Bahnhofsuhr blickt. Gesichter hinter den Bahnsteigschranken starren auf Gesichter hinter den vergitterten Zugfenstern. Einige weinen. Wieder gehen ihr Rostows Worte durch den Kopf: Es heißt, jeder Reisende durch das Ödland hat einen Preis zu zahlen. Einen Preis, der über die Kosten für die Zugfahrkarte hinausgeht.
Rostows Preis war sein Glaube. Manche meinen sogar, sein Leben. Seine Handbücher für vorsichtige Reisende hatten ihn in ganz Europa berühmt gemacht. Er führte den Reisenden zu den hygienischsten Restaurants, den beeindruckendsten Museen und den saubersten Stränden und wies ihn auf die schönsten Kirchen hin, zählte ihre Altarbilder und Fresken, ihre Märtyrer und Heiligen auf, denn wo auch immer ein Reisender auf diesem Kontinent unterwegs war, konnte er gewiss sein, dass Gott an seiner Seite wanderte. Doch sein letztes Buch war einem Land gewidmet, das man nur durch Glas betrachten konnte. Im Großsibirischen Ödland gibt es keine Kirchen mehr, keine Museen oder Springbrunnen oder Denkmäler, die die vertrauten Geschichten erzählen.
Der Moment des Innehaltens auf dem Bahnsteig dauert länger, als er sollte. Dann fällt die Fahne, und in einer langsamen Kakophonie aus Dampfstößen, Quietschen und stampfenden Rädern setzt sich der Transsibirien-Express in Bewegung. Als der Zug schnaufend losfährt, flammt erneut der Blitz des Fotografen auf, und für einen Moment sind die Dampfwolken hell erleuchtet.
Maria weicht blinzelnd zurück, und der Zug rollt aus dem Bahnhof von Peking, auf die ungewissen Weiten zu, die vor ihnen liegen.