Laila Rifaat: Aliya und die Unendliche Stadt


An ihrem elften Geburtstag erfährt Aliya ein Familiengeheimnis: Sie ist eine Zeitreisende! Auf dem fliegenden Teppich reist sie in die Unendliche Stadt, um dort die Navigation durch die Jahrhunderte zu lernen. Doch es gehen Gerüchte um, dass ein dunkler Magier zurückgekehrt ist. Er will die oberste Regel der Zeitreisenden brechen und die Vergangenheit verändern. Dafür fehlt ihm nur Aliya, die eine ganz besondere Gabe hat. Aliya muss sich ihrem Schicksal stellen, denn nur sie kann die Zeitreisenden retten.

Jugendbuch

Insel (2025)

Originaltitel: Aliya to the Infinite City

ISBN 978-3-458-64494-1

EUR 18,00




Leseprobe

1

 

Das Geheimzimmer

 

Aliyas Großvater war wieder einmal verschwunden. Das wusste sie, da kein Geräusch aus dem Arbeitszimmer drang. Sie lauschte auf ein Rascheln der Zeitung, ein Teeschlürfen, ein Klicken der Backgammon-Steine oder ein Schnarchen, doch da war nichts.

Ausgerechnet heute hätte sie erwartet, dass er dablieb, aber die Stille ließ keinen anderen Schluss zu. Wütend schlug Aliya gegen die Tür. Schließlich wurde man nur einmal im Leben elf. Und jetzt stand sie wie eine Idiotin vor seinem verschlossenen Zimmer, ohne Kuchen und Geschenke.

Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu schauen. Es war wirklich merkwürdig still da drinnen, als hätte der Raum ihren Großvater irgendwie weggezaubert. Meistens sah sie nur sein dunkles Zimmer, so wie jetzt. Aber sie hätte schwören können, dass sie dort auch schon ferne Orte erblickt hatte – eine wogende Wüste oder eine Straße voller Menschen. Manchmal konnte sie auch Gewürze riechen oder Benzin oder Kameldung. Es war, als könnte der Raum sich nicht entscheiden, wohin er führte – oder lag es nur daran, dass sie sich vor lauter Einsamkeit etwas zusammenspann?

Aliya hatte versucht, glaubwürdige Erklärungen für diese eigentümlichen Erscheinungen zu finden. Hatte das Arbeitszimmer einen geheimen Ausgang, durch den Geddo sich verdrückte? Vielleicht, um in einem Café ungestört seine Zeitung zu lesen? Oder um bei einem Glas Minztee mit einem würdigen Gegner Backgammon zu spielen? Aliya hielt die Nase an das Schlüsselloch und schnupperte, roch jedoch nichts Ungewöhnliches. Aber irgendetwas war da im Gange, ganz bestimmt.

Bevor das mit seinem Verschwinden begann, war Geddo ein ganz normaler Großvater gewesen, der ständig seine Brille suchte, im Sessel einschlief und sich in dem uralten Fernseher langweilige Dokus ansah. Sie hatten ganz normale Sachen gemacht, waren im Schneckentempo zum Laden an der Ecke gegangen und hatten Geddos Opa-Gerichte gegessen, die meist aus scharfen Würstchen und Eiern bestanden. Aliya hatte ihm geholfen, die Wäsche aufzuhängen (ihre Socken waren zu klein für seine steifen Finger) und das Geschirr abzuwaschen. Sie hatten zusammen die Straßenkatzen gefüttert, und jedes Mal, wenn eine neue dazustieß, um das Gemisch aus Thunfisch und eingeweichten Brotresten zu futtern, hatten sie sich einen Namen für sie ausgedacht. Aliya mochte coole, amerikanische Namen wie die aus den Fernsehserien, die sie sich anschaute, aber Geddo bestand auf arabischen Namen, die hinten in der Kehle begannen und über die Zunge sausten, als kämen sie zu spät zu einem Termin: Kharboush, Ghadanfar oder Khirash. Ägyptische Katzen konnten nicht Phoebe heißen oder Chandler.

Doch dann war Geddo vor etwa einem Monat in sein Arbeitszimmer gegangen, und als er wieder herauskam, war er irgendwie … verändert gewesen. Er hatte besorgt gewirkt und nicht mehr mit ihr geredet. Ganz merkwürdig wurde es, als er sie aus der Schule nahm und zu ihr sagte, sie müssten sofort umziehen, und sie solle keine Fragen stellen. Aber Aliya hatte Dutzende von Fragen gestellt. Wohin sie denn gehen würden? Ob es ihm gut ging? Ob sie einen Arzt holen sollte? Was mit den Straßenkatzen sei? Wer die füttern würde, wenn sie nicht mehr da wären?

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatten sie alles zurückgelassen.

Zuerst hatten sie bei einer alten Dame in einem Haus am Rand der Wüste gewohnt, dann eine Woche lang – unter falschem Namen – in einem heruntergekommenen Hotel, und jetzt hockten sie in einer Wohnung in einem baufälligen Haus am Stadtrand von Kairo.

Aliya blickte sich in der schäbigen Bleibe um. Wasserflecken breiteten sich wie ein Ausschlag über Wände und Decke, und alles, was sie besaßen, türmte sich überall wie auf einem Trödelbasar.

Noch seltsamer war, dass ihr Großvater jetzt, ganz gleich wo sie wohnten, stets ein Zimmer für sich behielt. Ein Geheimzimmer, das nur Geddo und Mr Kamal, der neue Butler – jawohl, ein Butler! – betreten durften. Aliya fuhr mit der Hand über die Tür, und sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass der Grund für Geddos seltsames Verhalten da drinnen eingeschlossen war.

Aliya wandte sich von der Tür ab und ließ den Blick durch das unordentliche Wohnzimmer gleiten. Wenn Geddo ihr kein Geschenk gab, würde sie sich eben etwas Geld nehmen und sich selbst eins kaufen. Sie schniefte, und ihre Augen brannten vom Staub und den aufsteigenden Tränen. Sie war es vielleicht nicht wert, gefeiert zu werden, aber an ihrem Geburtstag würde sie keine abgestandenen Reste zum Mittag essen.

Sie musterte die Sachen ihres Großvaters, die seit ihrem letzten Umzug kreuz und quer herumstanden. Da waren seine vergoldeten Lehnstühle mit den durchgesessenen Sitzen, bedeckt mit der üblichen Kairoer Mischung aus Sand und Staub, die sich wie ein Schleier auf alles legte.

Ihr Blick blieb an einem alten Koffer voller Bücher hängen. Eines davon hatte den Titel Sphinx Tutmos: Ein Gespräch. Sie nahm es heraus und betrachtete das Foto auf dem Umschlag, das eine skeptisch dreinblickende Sphinx in einem Strickkleid zeigte. Seltsam. Diese alten Bücher hatte sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich gehörten sie in Geddos Arbeitszimmer, zusammen mit seinen anderen Geheimnissen. Mit jedem Umzug waren einige Dinge aus dem verschlossenen Zimmer herausgedrungen, wie bei einer Schatztruhe, die ein Loch hatte.

Sie griff nach einem weiteren muffig riechenden Buch mit dem Titel Krude Gesundheit – Eine Anleitung zu ghulischer Heilung (ohne Kochen). Dann gab es noch Teppichpflege für den erfahrenen Flieger. Auf dem Umschlag war ein Teppich in der Luft abgebildet, dessen Pilot sich daran festklammerte, als hätte er Angst um sein Leben.

Geddo erzählte Aliya oft Gutenachtgeschichten über fantastische Dinge und Wesen – das gehörte zu ihrem abendlichen Ritual –, aber diese Bücher sahen so aus, als hätten sie tatsächlich praktischen Nutzen. 

In den Geschichten, die ihr Großvater mit solcher Überzeugung erzählte, als entspräche alles der Wahrheit, kamen alle möglichen Wesen vor, von Sphinxen mit Allergien bis zu ägyptischen Ghulen, die sehr empfindsam waren, wenn man sie erst einmal näher kennenlernte – wofür man allerdings lange genug am Leben bleiben musste. Eine von Aliyas Lieblingsgeschichten handelte von einem ungezogenen Mädchen, das von einem fliegenden Teppich entführt wurde. Er flog mit ihr fast um die ganze Welt, bis sie auf das Zauberwort kam, das ihn zum Landen brachte. 

„Und wie lautet das Zauberwort?“, fragte Aliya jedes Mal, wenn der Teppich über die Anden hinweggefegt war, ohne auch nur abzubremsen.

„‚Bitte’“, antwortete Geddo dann. „‚‚Bitte’ ist ein magisches Wort.“

Höflichkeit war die einzige Form von Magie, die Geddo guthieß. Viele von seinen Geschichten warnten vor einer anderen Art, die dunkel und gefährlich war und sich von der Seele der Menschen nährte.

Das brachte Geddo zu der Geschichte vom schönen Prinzen mit dem goldenen Haar und den leuchtend blauen Augen, dessen Ehrgeiz keine Grenzen kannte. Er wollte über die Zeit herrschen wie ein Gott und suchte die Wesen der Dunkelheit auf, um einen Teil seiner Menschlichkeit einzutauschen gegen eine Macht, wie kein Sterblicher sie haben sollte. Da diese Geschichte stets damit endete, dass der Prinz sein Reich ins Unglück stürzte, dachte sich Aliya eines Abends ein neues Ende aus, mit einer jungen Heldin, die ihr ähnelte und die furchtlos alle rettete.

Als Aliya nun erneut zu der verschlossenen Tür des Arbeitszimmers blickte, verspürte sie einen Stich bei der Erinnerung daran, wie Geddo sie in dem Moment angesehen hatte. Er glaubte offensichtlich nicht, dass sie zu solcher Tapferkeit fähig war, oder auch nur zu irgendeiner Art von Abenteuer, ob im wahren Leben oder in einer Geschichte.

 

Sie wandte sich wieder dem Durcheinander zu, um ein wenig Geld für ein Geschenk und eine Mahlzeit zu suchen. Da sprang plötzlich mit einem dumpfen Knall die Tür des Geheimzimmers auf.

Ein großer Mann in einem Tweedanzug trat heraus und schloss die Tür sofort wieder – zu schnell, als dass sie hätte sehen können, was sich dahinter befand. Er sah ein bisschen so aus wie ein säuberlich gebügelter Sherlock Holmes, nur mit Brille. Es war Mr Kamal, der neue Butler. Er war vor etwa einem Monat aus dem Arbeitszimmer aufgetaucht, als hätte Geddo ihn aus dem Hut gezaubert.

Aliya sah zu, wie er sich in einen der vergoldeten Lehnstühle setzte und seine Pfeife zu putzen begann. Waren Butler nicht so etwas wie Diener? Und liefen die wirklich in Tweedanzügen herum? Sie hatte welche in Filmen gesehen, und da standen sie immer ernst und pflichtbewusst bereit. Sie kündigten Besucher an oder brachten Tabletts mit Essen. Aber Mr Kamal entsprach diesem Bild überhaupt nicht. Er tat nie etwas Nützliches, und wenn er etwas putzte, dann nur seine eigenen Sachen. Vor allem ärgerte es sie, dass er nie antwortete, wenn sie ihn fragte, was mit Geddo los war, obwohl er – ein völlig Fremder! – im Gegensatz zu ihr das Arbeitszimmer betreten durfte. Jetzt zündete er seine Pfeife an, zog daran und blies eine kleine Rauchwolke zur Decke. Sie sah aus wie ein böser Geist aus Geddos Geschichten.

„Was tun Sie da eigentlich rein?“, fragte sie und rümpfte die Nase. „Das stinkt wie ein Haufen Fürze.“

Mr Kamal hielt inne.

„Gemahlene Mädchenknochen.“

Er musterte sie mit einem Stirnrunzeln, das sich noch verstärkte, als er sah, wie Aliya herausfordernd mit ihren schmutzigen Zehen wackelte.

„Heute ist mein Geburtstag“, sagte sie. Sie wartete einen Moment, aber Mr Kamal stieß nur eine weitere Rauchwolke aus. „Wissen Sie, wie es ist, wenn man seinen Geburtstag ganz allein feiern muss?“, sagte sie. „Seinen Geburtstag. Und es gibt nur ein paar Brote von gestern zu essen!“ Sie deutete auf das Durcheinander auf dem Beistelltisch. „Und den Gedenktag für meine Eltern hat er auch vergessen. Das ist noch nie vorgekommen. Wir sprechen sonst immer ein paar Gebete.“

Seit ihre Eltern gestorben waren, hatten sie den Tag immer begangen, indem sie ihre Gräber besucht und einige Suren aus dem Koran gelesen hatten. Danach waren sie zu der Eisdiele in der Nähe des Friedhofs gegangen. Das war Tradition.

„Todestage und Geburtstage,“ erwiderte Mr Kamal mit verächtlichem Schnauben. „Dein Großvater hat Wichtigeres zu tun. Und dabei kann er kein dummes Kind gebrauchen, das ihm zur Last fällt.“

Aliya zuckte zusammen. Ihr Geburtstag war nicht wichtig? Der Gedanke tat so weh, als hätte Mr Kamal sie gezwickt.

„Was hat er denn so Wichtiges zu tun?“, fragte sie.

„Wenn er wollte, dass du es weißt, hätte er es dir sicher gesagt.“

Noch ein schmerzhafter Gedanke. Aliya presste die Lippen zusammen. Mr Kamal sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Genauso hatte Geddo sie angesehen, als sie ein neues Ende für die katastrophale Prinzengeschichte vorgeschlagen hatte. Vermutlich dachte er an den Nachhilfelehrer, den Geddo angeheuert hatte, damit er ihr bei den Schulaufgaben half. Der hatte schließlich das Handtuch geworfen und Geddo einen Brief hinterlassen, in dem lauter Sachen standen wie „ungeeignet für akademisches Lernen“ und „schläft immer wieder ein“. Aliya hatte den Brief vor Geddo versteckt und dann daraus lauter Origami-Kraniche gebastelt, die jetzt in ihrer alten Wohnung verstaubten. Vielleicht hätte sie mehr lernen sollen. Sich mehr Mühe geben. Ihrem Großvater zeigen, dass sie zuverlässig war. Vielleicht hätte er sich ihr dann anvertraut. War es dafür jetzt zu spät?

Mr Kamal wandte sich wieder seiner Pfeife zu, und mit einem Mal schlängelte sich ein kaltes Gefühl durch Aliyas Herz und zischte hässliche Sachen. Was, wenn Geddo in Gefahr war? Er hatte in den letzten Wochen so besorgt ausgesehen, war dauernd auf und ab gelaufen und hatte kaum ein Wort gesagt.

Angst stieg in ihr hoch und kribbelte ihr in der Brust.

„Er ist mein Großvater“, sagte sie. „Wenn er in Gefahr ist, muss ich ihm helfen!“

„Du willst ihm helfen?“ Mr Kamal deutete mit seiner Pfeife auf die Tür zu ihrem Zimmer. „Dann geh aus dem Weg. Verzieh dich.“

Ohne nachzudenken bückte sich Aliya, holte eine Handvoll sandigen Dreck unter dem Teppich hervor und warf damit nach Mr Kamal. Beide starrten einen Moment auf sein beschmutztes Hemd, dann stürzte er sich mit ausgestreckten Händen auf sie. Sie wich zurück wie ein panischer Krebs, floh in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Mit zitternden Fingern versuchte sie, den Riegel vorzulegen, doch er rutschte ihr weg. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Die Tür bebte, als Mr Kamal von der anderen Seite dagegen schlug.

Bum. Bum. Bum.

Klack. Der Riegel glitt in die Halterung.

Sie war in Sicherheit.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann beugte sie sich hinunter und spähte durch das Schlüsselloch. Erschrocken fuhr sie zurück. Ein gelbes Auge starrte sie an, ohne zu blinzeln.

Auf der anderen Seite drehte sich der Schlüssel im Schloss. Kurz darauf hörte sie, wie Mr Kamals Schritte sich entfernten, dann wurde die Wohnungstür geöffnet und fiel wieder zu.

Er hatte sie eingesperrt.

Großartig. Jetzt lagen zwei Türen zwischen ihr und dem Geheimnis im Arbeitszimmer. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihr aus. Und noch ein anderes Gefühl. Bislang hatte es ihr nie Angst gemacht, allein zu sein. Aber jetzt … Geddo war in Gefahr, und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Als Erstes musste sie herausfinden, was los war, und dazu musste sie irgendwie in das Arbeitszimmer kommen.