Richard Crompton: Wenn der Mond stirbt


Schauplatz Nairobi. Eine junge Frau wird tot in einem Abflusskanal gefunden. Sie gehörte zur Volksgruppe der Massai. Ein Fall für den Polizisten Mollel, ebenfalls Massai und ein eigenwilliger, sympathischer Ermittler. Eigentlich ist er bei der Polizei in Ungnade gefallen. Doch nun holt man ihn zurück, denn der Fall ist brisant. Es scheint Verbindungen zu korrupten Politikern und einem einflussreichen Prediger zu geben. Mollel gerät in ein Dickicht aus Vertuschung und Gewalt und ist vor allem zu einem entschlossen: sich nicht korrumpieren zu lassen.

Kriminalroman

dtv (2014)

Originaltitel: The Honey Guide

ISBN 978-3-423-26015-2

EUR 14,90




Leseprobe

Die Sonne steht hoch am Himmel, und auf der Biashara Street ist Schatten ebenso rar wie Barmherzigkeit. Wo es welchen gibt – in Ladeneingängen und Seitengassen, den Höhlen und Schluchten der Stadt –, duckt sich das Leben hinein. Augen blinzeln und beobachten geduldig.

Sie sehen einen Mann und einen Jungen, die über den Fußweg gehen. Der Junge macht nach jedem dritten oder vierten Schritt einen Hüpfer, um den großen Schritten seines Begleiters folgen zu können.

Der Mann wiederum hat sich ein wenig hinuntergebeugt, um besser mit dem Jungen reden zu können. Würde einer von ihnen die Hand ausstrecken, würde der andere sie sicher nehmen, doch ihre Haltung lässt erkennen, dass keiner von beiden dieses Angebot machen wird. Sie sind Vater und Sohn.

„Aber wo willst du damit fahren?“, fragt der Vater leicht gereizt. Offensichtlich führen sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.

„Überall!“, erwidert der Junge. „Ich könnte für dich einkaufen fahren.“

„Adam, wir sind in Nairobi. Wenn du hier allein mit dem Rad fährst, riskierst du dein Leben. Hast du gesehen, was auf den Straßen los ist?“

„Dann eben in der Wohnanlage. Bei Grandmas Haus. Da ist es sicher. Michael hat auch ein Fahrrad. Und Imani auch, und die ist erst sieben.“

Der hoch gewachsene Mann bleibt plötzlich stehen, so dass der Junge gegen dessen Beine läuft. Etwas beunruhigt ihn: ganz nah, fast greifbar und doch nicht zu fassen. Als würde es gleich Ärger geben.

Wenn ich doch bloß einmal diesen verdammten Instinkt abstellen könnte, denkt Mollel. Einfach mal ungestört durch die Stadt bummeln und Zeit mit meinem Sohn verbringen. Ein ganz normaler Mensch sein und kein Polizist.

Aber das kann er nicht. Er ist, was er ist.

„Da, genau das will ich haben!“, sagt Adam und zeigt auf ein Schaufenster. Mollel nimmt vage ein paar Fahrräder in dem Geschäft wahr, doch seine Augen beobachten das Bild, das sich in der Scheibe spiegelt. Ein paar junge Mädchen, plappernd und Kaugummi kauend, Handys in der Luft wie Fächer, Handtaschen über die Schultern geschlungen wie Patronengurte. Und aus den Schatten schauen noch andere, hungrige Augen hinüber. Lässig und doch zielstrebig, jeder für sich und doch vereint, beobachten die Männer unauffällig, kommen scheinbar beiläufig näher und kreisen ihre Beute ein wie Jagdhunde.

„Geh in den Laden“, sagt Mollel zu Adam. „Und bleib da, bis ich dich hole.“

„Echt, Dad? Darf ich mir ein Rad aussuchen?“

„Bleib da drinnen“, sagt Mollel und schiebt den Jungen durch die offene Tür. Als er sich umdreht, ist es bereits passiert. Die Männer verschwinden wieder, die Mädchen haben noch gar nichts bemerkt. Er behält einen von ihnen im Auge, der rasch davongeht und sich dabei eine goldfarbene Plastikhandtasche – so gar nicht sein Stil – unters Hemd schiebt.

Mollel folgt ihm, passt sich dem Tempo des Jagdhunds an, bleibt jedoch auf Abstand, um ihn nicht aufzuscheuchen. Wenn er in eine Seitengasse abtaucht, ist er weg. Jetzt ein bisschen schneller, um ihn nicht zu verlieren. Raus aus der Biashara Street. Über die Muindi Mbingu. Zwischen den fahrenden Autos hindurch, ohne das Hupen zu beachten. Hier ist deutlich mehr los.

Der Jagdhund ist um die zwanzig, schätzt Mollel. Sportlich. Die Ärmel seines Hemdes sind abgeschnitten, nicht um die muskulösen Arme zu zeigen, sondern um es leichter loszuwerden. Mollel kennt das. Die Knöpfe an der Vorderseite sind nur Dekoration, darunter ist entweder Klettband oder eine Druckknopfleiste, für den Fall, dass jemand ihn zu fassen kriegt. Der steht dann nämlich nur mit dem Hemd in der Hand da, wie eine abgelegte Schlangenhaut.

Während Mollel überlegt, wie er vorgehen soll – ein Hechtsprung auf die Beine oder ein Klammergriff um die Brust –, registriert er, dass der Dieb auf den Marktplatz zusteuert. Jetzt muss er die Lücke schließen. Wenn er ihn da drinnen verliert, ist die Sache gelaufen.

Auf dem Markt, der einen ganzen Block einnimmt und mehr Ein- und Ausgänge hat als der Bau eines Klippdachses, wimmelt es an einem Tag wie diesem von Leuten, die sich in den erlösenden Schatten flüchten. Mollel erwägt kurz, ob er „Halt, Mwezi! Polizei!“ rufen soll, lässt es jedoch, denn es würde ihn wertvolle Zeit kosten. Der Dieb springt die Stufen hinauf, wobei er geschickt einem Haufen Fischabfälle ausweicht, hält kurz inne, um einen Blick über die Schulter zu werfen – ein wenig erschöpft, wie Mollel findet –, dann taucht er in das Halbdunkel ein. Mollels hagerer Körper ist nur wenige Schritte hinter ihm, sein Herz pocht, er atmet tief bis in die Lungenspitzen, obwohl sein Magen bei dem starken Fischgeruch rebelliert. Es ist schon eine Weile her, seit er das zuletzt gemacht hat, und er genießt es.

Er braucht einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Anfangs sieht er nur die hohen, schmalen Fenster, wie Säulen aus Licht. Doch die Geräusche beschreiben ihm, was er nicht sehen kann: das Gemurmel des Handelns, das Gackern der Hühner, das bunte Gemisch aus Gelächter, Geplauder und Gesang, das ganze lärmende Treiben des Lebens.

Und inmitten all dieses Treibens ein Treiben, das da nichts zu suchen hat. Jetzt hört er es nicht mehr nur, sondern sieht es auch, nur ein paar Stände weiter. Stolpernde Gestalten, protestierendes Geschrei. Seine Beute.

Durch eine Lücke in der Menge erblickt Mollel den Dieb. Er hat seinen Verfolger bemerkt und bringt Leute zu Fall und stößt Waren zu Boden, um ihn abzuschütteln. Zwecklos, ihm durch diesen Gang zu folgen. Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann entscheidet Mollel sich für rechts, umrundet einen Stand und läuft den nächsten Gang entlang. Er hat den Dieb zwar immer noch im Blick, aber auf diese Art wird er ihn nicht kriegen. Ein Stück weiter hat jemand Hirsesäcke vor einem Stand aufgetürmt. Seine Chance. Mit zwei Sätzen ist er oben und balanciert auf den Holzbrettern.
Die Frau hinter dem Stand fängt wütend an zu schimpfen und schlägt mit ihrer Kornschaufel nach seinen Beinen: „Runter da!“ Doch er ist schon fort, springt auf den nächsten Stand, hofft, dass das klapprige Gestell seinem Gewicht standhält – das tut es –, läuft weiter, springt und hofft erneut, und wieder hält es.

Hier oben hat er eine bessere Sicht, und er kommt schneller vorwärts, trotz der aufgebrachten Standbesitzer, die versuchen ihn zu verscheuchen, zu packen oder hinunterzuzerren. Er steht – buchstäblich – über allem, konzentriert sich ganz auf die Verfolgung.

Der frische, saubere Geruch von Paprika und Zwiebeln durchbricht die staubige Trockenheit der Hirse. Ein leichteres Manövrieren. Im Zickzack springt er über das aufgetürmte Gemüse, muss daran denken, wie er als kleiner Junge die Ziegen über das Felsgeröll gejagt hat. Jeder Schritt ein möglicher Sturz. Aber es gibt einen Trick: Sei schneller.

Empörtes Geschrei erfüllt seine Ohren, dennoch fühlt es sich so an, als wäre es in der riesigen Halle vollkommen still: Es gibt niemanden außer ihm und dem flüchtenden Mann. Der Abstand zwischen ihnen bemisst sich in Herzschlägen, Armeslängen, Fingergriffen.

Und dann ist er aus der Tür.

Plötzlich steht Mollel auf dem letzten Stand, umringt von wütenden Gesichtern. Die Leute versperren ihm den Weg, greifen nach seinen Fußknöcheln. Er sieht den Hinterkopf des Diebes, der gleich da draußen in der Menge verschwinden wird. Er greift nach unten, spürt etwas Hartes, Haariges – Kokosnüsse – unter seinen Füßen. Noch so ein Ziegenhirten-Trick: Wenn das Tier außer Reichweite ist, wirf etwas nach ihm.
Die Kokosnuss ist aus seiner Hand, bevor er auch nur darüber nachdenkt. Sie fliegt in einem flachen Bogen über die Köpfe der Standbesitzer und durch das helle Rechteck des Ausgangs. Er hört sogar das Krachen, und die Anspannung lässt nach. Jetzt hat er Zeit, seinen Ausweis herauszuholen und sich einen Weg nach draußen zu bahnen, wo sich ein Kreis gebildet hat.

Nun ist die Menge nachgiebig, neugierig. Der hintere Teil des Marktes gehört den Fleischern, und der metallische Geruch nach Blut hängt in der Luft.
Die Leute machen ihm Platz, und Mollel tritt in den Ring. Der Dieb hockt auf den Knien und reibt sich benommen über den Kopf; die goldene Handtasche ist auf den Boden gefallen. Die zerbrochene Kokosnuss haben sich bereits zwei Kinder geschnappt. Sie stehen ganz vorne in dem Kreis, lutschen an dem süßen Fleisch und grinsen Mollel zu. Essen umsonst, und dazu noch eine Action-Show. Was will man mehr?

„Sie kommen jetzt mit“, sagt Mollel. Der Dieb antwortet nicht. Aber er steht taumelnd auf.

„Ich sagte, Sie kommen jetzt mit“, wiederholt Mollel. Er tritt einen Schritt vor und packt den Dieb am Oberarm. Der ist so dick, dass Mollel ihn nicht umfassen kann, und stahlhart. Er hofft, dass der Kerl zumindest so lange benommen bleibt, bis er ihn zum Revier gebracht hat. Wenn er doch nur Handschellen dabei hätte ...

In dem Moment dreht sich der Arm aus seinem Griff, und Mollel schafft es gerade noch, zur Seite zu springen, so dass ihn der Schlag gegen die Schläfe nicht ganz so hart trifft. Von wegen benommen – das war nur gespielt. Der Dieb ist putzmunter und in Angriffsstellung. Er stürzt sich auf Mollel, doch der weicht aus. Die Menge jubelt. Er ist stark, wirkt aber nicht sehr koordiniert, dieser Kämpfer, und der Polizist hofft, dass er ihn mit einem geschickten Schulterstoß erneut zu Boden werfen kann. Mollel ergreift seine Chance und wirft sich mit gesenktem Kopf gegen die Brust seines Gegners, aber der Dieb ist schneller und pariert den Angriff mit unerwarteter Leichtigkeit. Mollel spürt einen scharfen, heftigen Schmerz im Kopf – überall –, ein Stechen und Reißen, den Schmerz der Überwältigung und Niederlage.

Sein Gegner lacht, und aus der Menge ertönen Beifallsrufe. Die sind nicht auf seiner Seite. Mollels Kopf wird von rechts nach links und von oben nach unten geworfen. Und er kann nichts dagegen tun.

„Jetzt hab ich dich, Massai“, spottet der Dieb.

Er hat seine Daumen durch Mollels Ohrläppchen geschoben.


Der Fluch seines Lebens, diese Ohrläppchen. Lang und ringförmig, seit seiner Kindheit gedehnt, so dass sie jetzt bis unter seinen Kiefer hängen. Die i-maroro sind unter den Massai ein Zeichen des Stolzes und des Kriegertums, aber überall sonst ein Objekt des Spotts und der Vorurteile. Er kennt viele Massai, die sich die Ohrläppchen haben entfernen lassen, aber irgendwie haben die Stummel für ihn etwas Trauriges, und die operierten Ohren sind genauso auffällig wie seine eigenen.

Immerhin, einen Vorteil hat es: Keiner kann sie an den Ohren packen.

Die Umstehenden schütten sich aus vor Lachen; da braucht er wohl nicht mit Hilfe zu rechnen. Sie haben noch nie einen Polizisten gesehen, der an seinen Ohren geführt wurde wie ein Ochse am Nasenring. Selbst der Dieb, der ihn aus einer Armeslänge Entfernung angrinst, scheint sein Glück kaum fassen zu können.

„Okay, jetzt pass mal gut auf, Massai“, sagt er. „Wir zwei gehen jetzt schön langsam raus zur K-Street. Ich reiße dir nicht deine hübschen Ohren ab, und du läufst nicht hinter mir her. Wenn du verstanden hast, nicken. Ach, wie dumm von mir, das kannst du ja nicht. Soll ich das für dich tun? Ja, so ist’s brav!“

Ein echter Komiker, denkt Mollel, während sein Kopf auf und ab gezogen wird. Der Dieb genießt die Vorstellung. Er gibt sogar ein bisschen an mit seinem gefangenen Polizisten, präsentiert sich der Menge mit stolzgeschwellter Brust. Lass ihn ruhig, denkt Mollel. So ist er nicht auf das vorbereitet, was ich gleich tue.


Was er tut – schnell und brutal –, entlockt sämtlichen umstehenden Männern ein mitfühlendes Stöhnen. Sie können sich nur zu gut vorstellen, was ein stahlkappenverstärkter Polizeistiefel in Größe 45 anrichten kann, wenn er in intimen Kontakt mit seinem Ziel kommt.

Beinahe zärtlich lässt der Dieb Mollels Ohren los. Seine Augen blicken gequält und schmerzerfüllt in die des Polizisten. Diesmal wird Mollel keine Schwierigkeiten haben, ihn zum Revier zu bringen.