Nguyễn Phan Quế Mai: Wo die Asche blüht


Vietnam, 1969: Die beiden Schwestern Trang und Qùynh wachsen in einem kleinen Dorf im Mekongdelta auf. Als junge Frauen bestellen sie die Reisfelder ihrer verarmten Eltern, der Vater ist als Invalide aus dem Krieg heimgekehrt. Als eine Freundin ihnen erzählt, in Saigon wäre es für Mädchen wie sie leicht, Arbeit als Barmädchen zu finden, fassen sie den Entschluss, in die Stadt zu gehen. Trang lernt dort einen amerikanischen Soldaten kennen und stürzt sich mitten in den Wirren des Krieges in eine Affäre mit ihm, die nicht ohne Folgen bleibt ...

Jahrzehnte später kehrt ein amerikanischer Veteran zurück nach Hồ-Chí-Minh-Stadt in der Hoffnung, sich von den Schatten der Vergangenheit befreien zu können. Er trifft auf Phong, den Sohn einer Vietnamesin und eines GIs, der in einem Waisenhaus aufwuchs und verzweifelt seine Eltern sucht - kann Phong ihm helfen, seine alte Schuld wiedergutzumachen?

Roman

Insel (2024)

Originaltitel: Dust Child

ISBN 978-3-458-64421-7

EUR 25,00




Leseprobe

Rückkehr ins Land der Angst

 

Hồ-Chí-Minh-Stadt, 2016

 

„Meine Damen und Herren, wir beginnen jetzt mit dem Landeanflug. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Sicherheitsgurt angelegt und Ihr Handgepäck unter dem Sitz vor Ihnen oder im Gepäckfach über Ihnen verstaut ist.“

Dan atmete tief durch, drückte die Nase an die kalte Scheibe und blickte nach unten.

„Siehst du was?“, fragte Linda und beugte sich vor.

„Zu viele Wolken.“ Dan lehnte sich zurück, damit seine Frau besser sehen konnte.

„Wir sind da, bevor du überhaupt etwas davon merkst.“ Sie lächelte und drückte seine Hand. 

Dan nickte und küsste Lindas Haar, das tröstlich nach Pfirsich duftete. Ohne sie hätte er es nicht geschafft. Er hatte sich geschworen, dass er nie wieder hierher zurückkehren würde.

Das Flugzeug rumpelte durch eine dichte Wolkendecke. Linda blätterte durch die Hochglanzseiten des Heritage-Magazins der Vietnam Airlines und betrachtete Fotos von luxuriösen Villen auf üppig grünen Hügeln, umgeben von weißen Sandstränden und tiefblauem Meer. Sie waren beide in kleinen, beengten Verhältnissen aufgewachsen, und er verstand ihre Sehnsucht nach schönen Häusern – eine Besessenheit, die dazu geführt hatte, dass sie Immobilienmaklerin geworden war. Doch Linda war nicht nur hinter dem Geld her, sondern sie suchte oft nach Leuten oder Projekten, die Kriegsveteranen bei den Hypotheken für ihre neuen Häuser halfen. Oder nach bezahlbaren Mietwohnungen für ehemalige Soldaten, die in Vietnam, Afghanistan oder im Irak gekämpft hatten. „Zu viele von ihnen sind obdachlos“, hatte sie zu ihm gesagt. Dafür liebte er sie.

Draußen war immer noch alles voller Wolken, die näher und näher zu kommen schienen. Ihre Dunkelheit weckte etwas tief in seinem Innern. Die alte Angst. Sein Körper spannte sich an. Er blickte zum Notausgang. Nur zwei Schritte. Einer, wenn er sprang.

Am Flughafen war er zum Leiter des Check-in gegangen. „Bitte, ich muss neben dem Notausgang sitzen.“

„Wie bitte, Sir?“

Er hatte seinen Kriegsversehrtenausweis vorgezeigt. Dennoch hatte der Leiter den Kopf geschüttelt. „Alle Plätze neben den Notausgängen sind bereits vergeben.“

Er war näher an den Mann herangetreten und hatte mit zusammengepressten Zähnen geflüstert: „Hören Sie, ich muss beim Notausgang sitzen, sonst kann ich nicht fliegen.“

Er war froh, dass er darum gekämpft hatte und dass der Notausgang vor ihm war, nicht hinter ihm.

Er atmete erneut tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Nach ein paar bewussten Atemzügen erkannte er, wie albern die Szene war, die er gemacht hatte. Warum musste er immer den typischen durchgeknallten Vietnamveteranen spielen? Was wollte er denn tun – die Tür auftreten und mitten im Flug rausspringen?

Er setzte gerade seinen Kopfhörer auf, um etwas beruhigende Musik zu hören, als das Flugzeug in ein Luftloch sackte. Gemurmel von den Passagieren um ihn herum. Der Sitz unter ihm schien plötzlich verschwunden zu sein, und er warf den Kopf zurück und klammerte sich an die Armlehnen. Der Airbus verlor an Höhe. Zu schnell. Hitze schoss durch seinen Körper. Die Maschine machte ein donnerndes Geräusch, als sie hin und her geworfen wurde, und die Kabine bebte heftig.

Der Kapitän meldete sich über die Lautsprecher und bat die Passagiere erneut, sich anzuschnallen.

Das Beben hörte nicht auf.

In Dan wand sich die alte Angst wie eine Schlange, die sich entrollte.

Er schloss die Augen, und mit einem Mal war er wieder im Cockpit seines Militärhubschraubers, und statt der Wolken sah er den dichten vietnamesischen Dschungel, der sich wie wild vor der Windschutzscheibe drehte. „Wir sind rechts gleich mit dem Heckrotor in den Bäumen“, schrie Hardesty in seinem Kopfhörer. Vom Dschungelboden blitzte Maschinengewehrfeuer auf. Rappa schoss mit seiner M-60 zurück, dass seine Schultern bebten. Kugeln trafen den Hubschrauber, und direkt über Dans Kopf war plötzlich ein Loch in der Plexiglasscheibe. „Schwerer Beschuss auf neun Uhr! Schwerer Beschuss auf neun Uhr!“, brüllte McNair panisch ins Funkgerät. Dann, mit ruhigerer Stimme: „Dan?“ Eine Hand tätschelte seine Wange. „Alles in Ordnung?“

Er öffnete die Augen. Einige Passagiere lachten vor Erleichterung. Die Turbulenzen waren vorbei. Dan schluckte; sein Gesicht glühte vor Zorn und Scham.

Er schüttelte den Kopf, versuchte, die Bilder seiner Crew loszuwerden. Doch er sah sie immer noch vor sich: seinen Bordschützen Ed Rappa, der sich nach jedem überstandenen Einsatz bekreuzigte und den Boden küsste; seinen Crewchef Neil Hardesty, der immer mit offenem Mund Kaugummi kaute; und seinen Co-Piloten Reggie McNair, der bei jedem Flug seine zerlöcherten Glücksbringersocken trug. Dan wünschte, er könnte ihnen sagen, wie leid es ihm tat.

Warum waren sie tot, und er lebte? Diese Frage hatte er sich in den letzten siebenundvierzig Jahren zahllose Male gestellt.

„Brauchst du deine Tabletten?“ Die Falten auf Lindas Stirn vertieften sich. Er hatte sie in den fünfundvierzig Jahren ihrer Ehe um einiges mehr altern lassen. Seine Wutanfälle, gefolgt von hemmungslosem Schluchzen. Seine Blackouts. Seine Alpträume. Die Geister seines Krieges.

„Es geht schon, danke.“ Tränen traten ihm in die Augen. Er legte den Arm um Linda und zog sie an sich. Sie war sein Fels.

„Deine Tabletten sind hier, gleich in Reichweite.“ Sie deutete auf ihre Handtasche, die unter dem Sitz vor ihr lag.

Er nickte und blickte aus dem Fenster, sehnte sich danach, festen Boden zu sehen. Er wünschte sich nichts mehr, als aus diesem Flugzeug herauszukommen. Vor langer Zeit hatte er den Kitzel des Fliegens geliebt, das Gefühl unendlicher Freiheit, unendlicher Möglichkeiten.

Mit neunzehn war er zur Armee gegangen und hatte sich um eine Ausbildung zum Piloten beworben, obwohl er sich keine großen Chancen ausrechnete. Viele von seinen Freunden waren entweder bereits eingezogen worden oder hatten ihren Einberufungsbescheid bekommen, sodass er ohnehin bald an der Reihe gewesen wäre. Und er hatte sich gedacht, dass er bei der Armee die Gelegenheit bekommen würde, etwas von der Welt zu sehen und ein Studium zu absolvieren. Als der Brief kam, der ihm mitteilte, dass ihn acht Wochen Grundausbildung, einen Monat Spezialinfanterieausbildung und dann neun Monate Pilotenausbildung erwarteten, hatte er einen so lauten Freudenschrei ausgestoßen, dass seine Mutter vor Schreck das Sieb mit den Nudeln fallen ließ, die es zum Abendessen geben sollte. Sie fragte ihn, was los war, und er las ihr den Brief vor. Er erzählte ihr, dass er viele Tauglichkeitsprüfungen über sich hatte ergehen lassen müssen, sie aber zu seiner Überraschung bestanden hatte. Der Rekrutierungsoffizier hatte gesagt, die Armee brauche dringend Hubschrauberpiloten in Vietnam, aber Dan hatte angenommen, dass sich sehr viele darum bewerben würden.

Als seine Mom sagte, sie wolle nicht, dass er dorthin ging, schließlich könne er getötet werden, hatte er erwidert, sie solle sich keine Sorgen machen, Gott werde schon auf ihn aufpassen. Wie so viele Neunzehnjährige hatte er sich für unbesiegbar gehalten. Doch ein Monat in Vietnam hatte gereicht, um ihm diese Illusion zu nehmen. Er war erst dreiundzwanzig gewesen, als er die Armee verlassen hatte, aber er hatte sich wie sechzig gefühlt. Das Wissen um den Tod hatte ihm die Jugend geraubt.

Wieder kam eine Ansage aus dem Lautsprecher, diesmal von einer Frauenstimme, und sie sprach Vietnamesisch. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Klang. So lyrisch, fast wie ein Lied. Wie die Schlaflieder, die Kim ihm vorgesungen hatte.

Etwas kam ihm bekannt vor. „Xin vui lòng.“ Hieß das nicht „bitte“? Vor der Reise hatte er versucht, sich wieder mit der Sprache vertraut zu machen, aber offenbar hatte es nicht viel genützt.

Linda öffnete ihre Tasche, nahm eine Cremedose heraus und rieb sich das Gesicht ein. Dann legte sie rosa Lippenstift auf; ihre Lieblingsfarbe. Dieses Jahr wurde sie sechsundsechzig, aber wenn er sie anschaute, konnte er immer noch die junge Frau sehen, in die er sich damals verliebt hatte. Sie hatten dieselbe Highschool besucht, und sie war ihm in seinem vorletzten Jahr aufgefallen. Er sah sie noch vor sich, wie sie über das Basketballfeld rannte, das Gesicht gerötet und voller Entschlossenheit, die gebräunten Beine in der Luft, als sie nach dem Ball sprang. Wie froh war er gewesen, dass seine jüngere Schwester Marianne in der Mannschaft mitspielte, denn so hatte er einen Vorwand gehabt, Linda zuzusehen.

„Genug“, hatte Linda vor einigen Monaten gesagt, als er bei den Nachrichten über die Kriege im Irak und in Afghanistan geweint hatte. „Jetzt ist es endgültig genug, Schatz. Genau genommen ist es schon seit Jahren mehr als genug.“ Sie zeigte ihm den Provisionsscheck, den sie für den Verkauf einer Eigentumswohnung bekommen hatte. „Ich will, dass wir mit diesem Geld endlich deine Probleme angehen.“

Genau genommen ist es schon seit Jahren mehr als genug. Sie brauchte gar nicht zu sagen, dass diese Reise über den Fortbestand ihrer Ehe entscheiden würde; das hörte er in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie es verdiente, glücklicher zu sein, aber er wusste auch, dass es die Hölle sein würde, dorthin zurückzukehren. Alle seine schlimmen Erinnerungen würden wieder lebendig werden. Doch er war es Linda schuldig, sich seinen Dämonen zu stellen. Sie waren verlobt gewesen, als er nach Vietnam ging, und sie hatte auf ihn gewartet, als er zurückkam. Sie war trotz allem bei ihm geblieben. Aber was, wenn sie die Wahrheit über Vietnam erfuhr? Und über Kim?

 

(...)

 

Das Flugzeug befand sich weiter in steilem Landeanflug, und als sie die Wolken hinter sich gelassen hatten, blickte Dan nach unten. Reisfelder. Obwohl eine Ewigkeit vergangen war, leuchteten die Felder immer noch im gleichen Smaragdgrün. Wenn die Sonne auf das Schachbrett aus überfluteten Quadraten fiel, funkelten sie immer noch wie Messer. Und die Flüsse, die sich durch all das Grün wanden, sahen immer noch aus wie giftige Schlangen.

Linda spähte an ihm vorbei. „Oh, ist das schön.“

Nach und nach kam Saigon, jetzt Hồ-Chí-Minh-Stadt, in Sicht. Einst so vertraut wie seine Handfläche, war ihm die Skyline der Stadt jetzt vollkommen fremd mit ihren verglasten Hochhäusern und den vom Verkehr verstopften Straßen.

„Sieh doch nur, die ganzen Wolkenkratzer!“, rief Linda aufgeregt.

Er wollte ihr von den Rauchsäulen erzählen, die damals in den Himmel stiegen, vom Pfeifen der Raketen, die auf die Stadt zuschossen, von den Leuchtgranaten, die die Nacht erhellten, von den Bettlern auf den Straßen, die keine Arme und Beine mehr hatten, aber er hatte Angst davor, die Erinnerungen hervorzuholen.

Er beugte sich vor und hielt Ausschau nach dem Flughafen Tân Sơn Nhứt, der jetzt Tân Sơn Nhất hieß, wo er damals stationiert gewesen war. Anfangs hatte er nur hohe Tiere und berühmte Leute herumgeflogen und ihnen ein wenig das Land gezeigt. „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt, Warrant Officer“, hatte der First Sergeant zu ihm gesagt. „Sie waren der Beste in Ihrer Klasse, und Sie sind fotogen, genau wie die es mögen. Seien Sie froh.“ Einmal hatte er sogar einen bekannten Hollywoodstar zu einem Artilleriestützpunkt geflogen. Sein Vorgesetzter und die anderen Crewmitglieder waren vor Ehrfurcht schier erstarrt, aber für ihn verstärkte der Besuch des Schauspielers nur das seltsame Gefühl, eine Rolle in einem Film zu spielen, anstatt wirklich am Krieg teilzunehmen. Einerseits war er dankbar, nicht im Kampfgeschehen zu sein, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen und das Bedürfnis, sich im Einsatz zu bewähren; dafür war er doch schließlich hier.

Schließlich wurde er als Pilot und Crewchef dem Hubschraubertrupp der Kompanie zugewiesen. Mit seinem Huey, einem Bell UH-1D/H-Hubschrauber, unternahm er Angriffs- und Versorgungsflüge, brachte Lebensmittel, Munition oder Soldaten rein und manchmal auch gefallene oder verwundete Soldaten raus. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie sehr diese Einsätze sein Leben für immer verändern würden.

Unter ihm breitete sich der Flughafen aus. Er sah ganz anders aus als früher, und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er sollte sich nicht so verrücktmachen, schließlich war er jetzt nur ein Tourist. Ein schwabbeliger Amerikaner mit Bauchtasche in Begleitung einer Frau mit Selfiestick. Niemand brauchte zu wissen, dass er ein ehemaliger Soldat war.

Er sah, wie die Flugbegleiterin schräg gegenüber sich in ihrem Sitz zurücklehnte und ihren áo dài zurechtzupfte, und erneut überfluteten ihn die Erinnerungen. Kim hatte auch oft dieses kleidartige Oberteil getragen, mit Stehkragen und aus weichem Stoff, der ihr bis zu den Knien reichte. An einem Tag vor vielen Jahren hatte er bewundernd zugesehen, wie sie sich in einem weißen áo dài für eine buddhistische Zeremonie bereitmachte, die in einer Pagode in der Nachbarschaft stattfinden sollte. Sie waren gerade in die Wohnung eingezogen, die er für sie gemietet hatte. Sie stand am Fenster, und ihre Hand fuhr mit dem Kamm durch den Fluss ihres Haars. Er saß auf dem Bett und staunte über diesen Widerspruch: die Schönheit und Eleganz inmitten des Grauens. 

„Wir sind da!“, sagte Linda, als das Flugzeug zum Halten kam. Dan rieb sich über die Stirn. Er hatte versucht, Kim aus seinem Leben zu löschen. Er hatte alle Fotos von ihr verbrannt. Er hatte sich eingeredet, dass sie nur ein Traum gewesen war, ein Geist. Doch sie war trotz allem in seiner Erinnerung lebendig geblieben, und jetzt stürzte sie auf ihn zu, als er in die Stadt zurückkehrte, in der sie einander begegnet waren.

Wieder sah er ihr schönes, achtzehnjähriges Gesicht. Ihre braunen Augen. Ihre Tränen.