Laila Rifaat: Aliya und der Silberexpress


Aliya kann es kaum erwarten, an die Schule der Zeitreisenden zurückzukehren. Doch der finstere Magier Dorian Darke ist noch immer auf der Suche nach ihr. Um sie in Sicherheit zu bringen, werden Aliya und ihre Freunde auf eine Zugreise durch die Jahrtausende im legendären Silberexpress geschickt. Sie sind begeistert und überzeugt, dass sie hier in Sicherheit sind. Doch als ein Passagier getötet wird, ahnt Aliya, dass Dorian dahintersteckt. Sie muss ihn aufhalten. Doch sie weiß nicht, wem sie noch vertrauen kann - vielleicht nicht einmal sich selbst?

Jugendbuch

Insel (2025)

Originaltitel: Aliya Aboard the Time Train

ISBN 978-3-458-64535-1

EUR 18,00




Leseprobe

1

 

Rätselbingo mit Sphinxen

 

Aliya Sultan verstand nicht, wie ihr Großvater auf die Idee kam, Nachmittagstee mit den Sphinxen wäre „ein ungefährlicher, harmloser Spaß“. Ihr fielen ungefähr eine Million andere Sachen ein, die sie an diesem heißen Sommertag lieber tun würde, als mit ein paar Mythischen Rätselbingo zu spielen. Aber da sie erst zwölf war und vor Kurzem einen Kampf mit dem gefährlichsten Verbrecher der Zeitreisewelt überlebt hatte, musste sie sich Geddos Sicherheitsvorkehrungen unterordnen.

Seufzend sank Aliya tiefer in den Samtsessel. Er passte farblich zu den Wandteppichen, auf denen majestätische Sphinxe abgebildet waren, die vor Pyramiden lagen und panisch flüchtende Menschen verschlangen. Sie befand sich im Haramachis, einem Teesalon für Sphinxe, der speziell für die mächtigen Wesen mit dem Löwenkörper und dem Menschenkopf entworfen war. Die Mythischen lagerten an niedrigen Tischen mit Leckereien und Wasserpfeifen, die man auch ohne Daumen genießen konnte. Doch die Sphinxen waren geschickt mit ihren Tatzen und konnten die großen Porzellantassen, die die Kellner ihnen brachten, mühelos halten.

Im ganzen Teesalon roch es nach den Brötchen mit Räucherwurst und dem widerlich süßen Sirup, nach dem die großen Katzenmenschen so verrückt waren. Verstohlen stopfte Aliya das Wurstbrötchen, das man ihr serviert hatte, in den Topf einer Palme, dann sah sie auf die Uhr an der Wand. Wie alle Zeitmesser hier in der Welt der Zeitreisenden, war sie furchtbar kompliziert zu lesen, mit allen möglichen Zeigern, die in verschiedene Richtungen wiesen. Sie wurde nicht schlau daraus, und so wusste sie nicht, wie lange sie noch hier sitzen und Rätselbingo spielen musste, das Lieblingsspiel der Sphinxe.

Draußen vor dem großen Erkerfenster konnte Aliya den Qahira-Platz sehen. Er war nicht nur das Zentrum der Zitadelle, der berühmtesten Zeitreisestadt im ganzen bekannten Universum, sondern bildete zugleich den Mittelpunkt des Infinitums, der Zeitreisewelt. Reisende sausten auf fliegenden Teppichen vorbei oder benutzten Flitzkabinen, Aufzüge, die durch die Luft schossen. Aliya entdeckte sogar eine Hieracosphinx, die mit ihren mächtigen Flügeln durch die Luft glitt und für einen Moment die Sonne verschattete. Und wieder dachte sie, was sie an diesem Tag schon so oft gedacht hatte: Warum muss ich hier rumsitzen und alberne Rätsel lösen, für die ich bloß ein blutiges Steak als Belohnung bekomme? Ich würde viel lieber da draußen sein und die Stadt erkunden!

Aliya brauchte dringend etwas Aufmunterung. Sie hatte gerade einen grässlichen Monat in einer Alterungsklinik hinter sich. Das eine Jahr als Schülerin in der Zeitreisewelt hatte ihren normalen Alterungsprozess verlangsamt, weil die Zeit hier anders funktionierte. Und so hatte sie einen Teil der Sommerferien an einem geheimen Ort in der ägyptischen Wüste zubringen müssen, in einer Klinik, die darauf spezialisiert war, die unangenehmen Beschwerden zu lindern, die einen überfielen, wenn man in die irdische Welt zurückkehrte und der Körper sein tatsächliches Alter einzuholen versuchte. Das Schlimmste – neben dem dumpfen Schmerz und dem ständigen Knacken ihrer Knochen, die zu schnell wuchsen – war, dass sie dort ständig in Begleitung ihrer Großtante Gigi und deren Assistentin Esmat gewesen war. Die beiden hatten ihr in alles reingeredet und sie gezwungen, eimerweise glibberige Kuhfußsuppe zu trinken, um ihr wachsendes Skelett zu schmieren. Aber im Infinitum zu bleiben, war nicht infrage gekommen. Da wurde man irgendwann komisch im Kopf. Alle Zeitreisenden brauchten Auszeiten von der besonderen Art der Schwerkraft, die im Infinitum herrschte. Vor allem wenn sie, wie Aliya, noch nicht daran gewöhnt waren.

Wie sehr hatte Aliya sich danach gesehnt, in diese wundersame Welt zurückzukehren und ihre Freunde wiederzusehen! Sie hatte angenommen, der Rest der Sommerferien würde voll wilder Teppichflüge und Abstecher zu Pastroudis Süßwarenladen sein, wo es viktorianisches Weingummi und futuristische Tuben mit inhalierbarer Schokolade gab, ganz zu schweigen von den zweihundert verschiedenen Sorten Lokum. Das mit Granatapfelgeschmack war einfach himmlisch! Sie hatte sich darauf gefreut, sich in Cletus’ Internetcafé an den virtuellen Olympischen Spielen zu versuchen und im Antiken Viertel einen leckeren Smoothie zu trinken.

Stattdessen hatte Geddo, kaum dass sie durch das Portal in die Hauptreisezentrale getreten war, mit seiner Aliya-Schutz-Kampagne losgelegt. Zwei Sphinxe hatten sie zu Hausmutter Olfats Schülerherberge geleitet und waren seither nicht von ihrer Seite gewichen. Aliya und ihr Großvater wohnten „aus Sicherheitsgründen“ in der Herberge, und obendrein hatten er und die Hausmutter sich „ungefährliche Zerstreuungen“ ausgedacht, um sie zu „unterhalten“. In der Woche seit ihrer Rückkehr hatte sie bereits an Hausmutter Olfats Gruppentreffen für zivilisierte Ghule teilgenommen (ihr dröhnten immer noch die Ohren von den therapeutischen Brüllübungen) und zusammen mit ein paar Damen aus dem Viktorianischen Viertel den dortigen Marktplatz mit Begonien bepflanzt. Der Höhepunkt des Tages war ein ausgebüxtes Kamel, das die Gärtnerinnen aufgescheucht und sich über die Pflanzen und einen blumengeschmückten Hut hergemacht hatte. Es war lustig gewesen zuzusehen, wie die Damen das Kamel mit wild schwingenden Handtaschen und drohend erhobenen Harken und Schaufeln verjagt hatten. 

Davon abgesehen war die Woche öde gewesen, zumal ihre Freunde alle noch in ihren Ursprungszeiten Urlaub machten. Da es ziemlich schwierig war, aus der irdischen Welt Nachrichten ins Infinitum zu schicken, hatte sie das nicht gewusst und war enttäuscht gewesen, als sie bei ihrer Ankunft in der Herberge niemanden von ihnen vorgefunden hatte.

Allerdings hatte ihr Großvater tatsächlich einen Grund, sich um sie zu sorgen, denn letztes Jahr war Aliya fast von einer mit einem Fluch beladenen Kette getötet worden, die der Zauberer Dorian Darke ihr geschickt hatte. Für die Zeitreisewelt gab es keine größere Gefahr als Magie – und Dorian. Doch seit diesen Vorfällen waren die Sicherheitsvorkehrungen im Infinitum verstärkt worden, und jetzt war es vollkommen magiesicher. Geddo übertrieb mal wieder alles, wie immer.

Aliya nahm die Tageszeitung vom Beistelltisch. Auf der Titelseite prangte ein großes Foto von einem prächtigen Chronozug, dem Silberexpress. Seit ihrer Rückkehr verfolgte Aliya ebenso fasziniert wie alle anderen in der Herberge die täglichen Berichte über die Vorbereitungen für die Abfahrt des Wunderwerks. Der Zug, der eher einem eleganten Doppeldeckerdampfer glich, bot jeden erdenklichen Luxus. Im Innern der Zeitung fand Aliya einen Artikel, in dem das Türkische Dampfbad im Silberexpress beschrieben wurde; es hatte sogar einen Pool. Außerdem war ein Foto von den Schokoladenbrunnen in der Ersten Klasse zu sehen, in denen alle erdenklichen Sorten flossen, von nachtschwarz bis karamellbeige. Es handelte sich um die exklusivste Form der Zeitreise. Dementsprechend war der Zug der crème de la crème vorbehalten, der wohlhabenden und einflussreichen Elite der Zeitreisewelt. Selbst Professor Nigm, Aliyas Mentor, war noch nie mit diesem Zug gefahren. Und Geddo und Großtante Gigi natürlich erst recht nicht. Aliya betrachtete das prachtvolle Gefährt auf dem Foto. Ein Zug, der durch die Zeit reiste ... was für ein Abenteuer!

Jemand stupste sie an.

„He, Menschenkind. Du bist dran.“

Ein Sphinx mit goldfarbenem Fell und weinrotem Tarbusch sah mit gerunzelter Stirn auf sie herab, die bernsteinfarbenen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.

„Oh.“ Aliya stieg die Hitze in die Wangen, als sie merkte, dass sämtliche Sphinxe im Saal sie anschauten. „’tschuldigung. Ich hab nicht aufgepasst.“

Sie rückte den Turban auf ihrem Kopf zurecht. Den hatte die Hausmutter ihr geliehen, damit sie beim Rätselbingo wenigstens eine kleine Chance hatte. Als sie den weichen Stoff berührte, hörte sie dicht an ihrem Ohr ein leises Knurren. Wissensturbane halfen Zeitreisenden dabei, sich auf unbekannten Gebieten zurechtzufinden, indem sie ihrem Träger unauffällig Informationen zuflüsterten. Aliya war sich nicht sicher, ob es beim Rätselbingo erlaubt war, einen Wissensturban zu tragen, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie bei der Lösung der Rätselfrage, die sie gerade aus der Schachtel gezogen hatte, überhaupt Hilfe wollte, denn der Preis war schon wieder ein rohes, bluttriefendes Steak auf einem vergoldeten Teller.

„Was ist jetzt?“, rief der Sphinx mit der goldenen Mähne. „Los, Menschenkind. Was steht auf der Karte?“

„Wohin bringen Bananen morgens ihre Kinder?“, las Aliya vor.

„In die Chikita“, flüsterte eine heisere Stimme ihr ins Ohr. Der Wissensturban schlang sich enger um ihren Kopf. Wieder sah Aliya zu dem blutigen Steak in der Mitte des Tisches.

„Ich weiß nicht“, log sie.

Das aufgebrachte Geflüster des Turbans mischte sich mit dem herablassenden Schnalzen der Sphinxe.

„In die Chikita“, zischte der Turban ihr ins Ohr. „Los, sag die Antwort, du dummes Gör.“

Als Aliya weiter schwieg, zwickte der Turban sie grob ins Ohr. Aliya riss ihn sich vom Kopf und stopfte ihn in ihre Tasche, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Diese Turbane wussten zwar vieles, aber sie waren furchtbar übellaunig.

„In meiner Zeit fressen wir immer noch Menschen, die unsere Fragen nicht richtig beantworten“, sagte eine Sphinx in einem altägyptischen Outfit.

„Und zerstören ihre Dörfer oder Städte“, ergänzte eine andere.

Einige lachten leise. Aliya wurde nervös. War das Sphinxhumor? Bei ihren Studien hatte sie gelernt, dass Sphinxe den Menschen tatsächlich Schlimmes angetan hatten, ganz besonders, wenn sie ihre Rätsel nicht lösen konnten. Aber diese hier hatten das Zivilisierungsprogramm der Zeitreisewelt durchlaufen und sollten eigentlich zahm sein. Nitzi und Hosneyya, die Herbergssphinxe, die Geddo zu ihrer Bewachung geschickt hatte, unterhielten sich meist über das Stricken und die Gefahren von Keimen, also musste das hier wohl ein Scherz sein. Aliya sah die beiden am anderen Ende des Saals, wo sie sich ein Steak teilten, ohne etwas von ihrer misslichen Lage mitzubekommen. Und so was nennt sich Leibwächter ...

„Es geht doch nichts über einen frischen Menschen“, sagte die Sphinx aus dem alten Ägypten und rückte näher an sie heran, so nah, dass Aliya ihr muffiges Fell riechen konnte. „Zarter als jedes andere Fleisch, und die Knochen zerknacken einem auf der Zunge ... habe ich zumindest gehört.“

 Auch die anderen Mythischen kamen jetzt näher. Aliya rann ein Schweißtropfen den Rücken hinunter. Wie war Geddo nur auf die Idee gekommen, das hier wäre eine „ungefährliche“ Unternehmung?

„Was für eine interessante Bemerkung“, ertönte eine tiefe Stimme am anderen Ende des Saals. „Es gibt also offenbar immer noch Sphinxe unter uns, die nach Menschenfleisch gieren.“

Wie von Zauberhand löste sich das Gedränge vor Aliya auf, und alle Köpfe wandten sich einem alten Sphinx mit einem abgetragenen roten Tarbusch zu. Er hatte einen prächtigen grauen Schnurrbart, dessen Enden elegant gezwirbelt waren.

„Professor F-Fayruz“, stammelte der Sphinx mit der goldenen Mähne. „Das war doch nur ein kleiner Scherz.“

„Vollkommen harmlos“, beteuerte die Sphinx aus dem alten Ägypten. „Wir haben das Menschenkind nur ein bisschen aufgezogen. Sie sind so köstlich, wenn sie Angst haben ... Oh, so hab ich das nicht gemeint ... also nicht wörtlich.“

„Ich habe vierzig Jahre damit zugebracht, wild gewordene Mythische aufzuspüren und auszuschalten“, sagte der Professor grimmig und stellte seine Mokkatasse ab. „Und das war weder harmlos noch ein Scherz. Dass ich jetzt im Ruhestand bin, bedeutet nicht, dass ich nichts mehr mitbekomme. Im Gegenteil, sollte ich irgendwo im Infinitum auch nur einen Hauch von Verwilderung wittern, werde ich nicht zögern, meine Pflicht zu tun.“

Er beendete seine Ansprache mit einem leisen, drohenden Knurren. Einen Moment lang war es vollkommen still im Saal. Selbst Hosneyya und Nitzi blickten mit bluttriefendem Kinn von ihrem Steak auf.

„Würden Sie uns allen Ernstes wegen eines Scherzes melden?“, fragte schließlich ein Sphinx in einem grünen Umhang. „So was passt doch nicht zur Brigade, oder?“

Während alle in angespanntem Schweigen auf Professor Fayruz’ Antwort warteten, ging Aliya ein Licht auf. Die Brigade – das war der Name der Spezialeinheit, die ihr Großvater früher angeführt hatte. Und das hier war der Professor Fayruz, über den sie schon so viel gehört hatte. Chef der K9-Einheit und Geddos engster Freund – der seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren keinen Fuß mehr in die Zeitreisewelt gesetzt hatte.

„Keine Sorge“, erwiderte Fayruz. „Ihr seid ja nichts weiter als ein Haufen überfütterter Kätzchen.“

Erleichtertes Lachen war zu hören. Dann richtete der Professor seinen Blick plötzlich auf Aliya.

„Dieses Mädchen ist die Enkelin meines besten Freundes, Captain Farouk Sultan“, sagte er. „Das solltet ihr euch merken.“

Fayruz nickte Aliya kurz zu, dann wandte er sich um und ging.

 

 

„Was hat den denn hierher getrieben?“, fragte Aliya den Sphinx mit der goldenen Mähne. „Ich habe gehört, er hätte sein Haus in der Altstadt von Kairo seit zehn Jahren nicht mehr verlassen. Ist er nicht so eine Art Eremit?“

So hatte ihr Freund Mustafa den alten Kämpfer genannt. Ein Eremit war jemand, der nichts mit der Gesellschaft zu tun haben wollte, allein lebte und den anderen so weit wie möglich aus dem Weg ging. Mustafa, der ein begeisterter Brigade-Fan war, hatte sämtliche Bücher über ihre Abenteuer gelesen. Es hieß, der Professor hätte sich nach einem Zwischenfall mit einem wild gewordenen Mythischen am Ufer des Nils von den Menschen zurückgezogen. Niemand wusste, was bei dieser schicksalhaften Begegnung passiert war, aber er war danach nicht mehr derselbe gewesen.

Der Goldmähnen-Sphinx, der Aliya jetzt mit neuem Respekt betrachtete, deutete auf die Zeitung und sagte:

„Vielleicht hat er eine Fahrkarte.“

Aliya sah hinunter auf das Foto von dem prachtvollen Doppeldeckerzug. War der alte Sphinx deshalb hier? Gut möglich, denn wenn es etwas gab, wofür es sich lohnte, das Haus zu verlassen – selbst für einen Eremiten –, dann war es eine Reise mit dem Silberexpress.